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1. Was ist Lesekompetenz?
Lesen ist eine vielschichtige Kompetenz, die sich aus verschiedenen kognitiven Teilfähigkeiten zusammensetzt sowie von individuellen und sozialen Einflussgrößen bestimmt wird.
In diesem Kapitel werden folgende Fragen beantwortet, um die verschiedenen Ebenen der Lesekompetenz greifbarer zu machen:- Wie lässt sich Lesekompetenz aus mehreren Perspektiven verstehen und beschreiben? (s. Kap. 1.1)
- Welche Teilfähigkeiten gehören zur Prozessebene der Lesekompetenz? (s. Kap. 1.2)
- Welche Aspekte gehören zur Subjektebene der Lesekompetenz? (s. Kap. 1.3)
- Welche Komponenten gehören zur sozialen Ebene der Lesekompetenz? (s. Kap. 1.4)
1.1. Eine Betrachtung der Lesekompetenz aus verschiedenen Perspektiven
Lesen ist ein zentraler Aspekt schulischen Lernens und eine wesentliche Voraussetzung für den weiteren Wissenserwerb. Lesekompetent zu sein bedeutet, Texte kontextabhängig nutzen zu können (Bos et al., 2004). In den verschiedenen Forschungsperspektiven auf die Lesekompetenzwird betont, dass Lesekompetenz verschiedene Bestandteile umfasst. Zu ihr gehören zunächst verschiedene kognitive Teilprozesse (Richter & Christmann, 2002). Zugleich werden Lesefähigkeiten von individuellen emotional-motivationalen Komponenten sowie sozialen Faktoren beeinflusst (Garbe, 2022; Hurrelmann, 2002; Philipp, 2011). Lesekompetente Schülerinnen und Schüler zeichnen sich zudem dadurch aus, dass sie sich im Sinne einer Anschlusskommunikation über Gelesenes austauschen und darüber reflektieren können (Groeben & Hurrelmann, 2002).
Gleichzeitig umfasst die Lesekompetenz auch Teilaspekte der literarischen Kompetenz. Schülerinnen und Schüler sollen, zusätzlich zu Sachtexten, durch eine große Auswahl an literarischen Texten Lesefreude und Leseinteressen ausbilden können (Spinner, 2006a). Didaktische Perspektiven führen die Erkenntnisse über den Erwerb der kognitiven Teilprozesse, die weiteren individuellen und sozialen Einflüsse sowie die Aspekte des literarischen Lesens in Konzepte für die unterrichtliche Vermittlung der Lesekompetenz zusammen. Das weitverbreitete Modell von Rosebrock & Nix (2020) verdeutlicht das Zusammenspiel dieser Ebenen – sowohl die kognitiven Prozesse beim Lesen als auch die individuellen und sozialen Einflussgrößen auf das Lesen (s. Abb. 1). Für die unterrichtliche Praxis ist dieses Modell deshalb von zentraler Bedeutung und wird im Folgenden gegliedert nach seinen drei Ebenen dargestellt (s. Kap. 1.2 – 1.4).
Abb. 1: Das Mehrebenenmodell nach Rosebrock & Nix (2020) (mit freundlicher Genehmigung des Schneider Verlags Hohengehren)
Der kindliche Erwerb der Lesekompetenz ist kein einfacher, linearer Prozess. Er wird vielmehr von einer Vielzahl individueller Faktoren, aber auch von der sich wandelnden, zunehmend digitalen Welt beeinflusst. Im digitalen Raum entsteht beispielsweise eine neue Welt an Texten, in der Kinder sich zurechtfinden müssen. Das Lesen wird damit um unzählige Komponenten erweitert und verändert. Lesen ist eng mit der Materialität des Textes verknüpft. Auch diese kann unterschiedlich sein, z. B. unterscheidet sich ein analoges Buch von einem digitalen Text auf dem Tablet, den Kinder nicht anfassen können. Digitale Texte sind zudem durch multimodale Ansätze und Hypertextstrukturen gekennzeichnet. Dies stellt wiederum besondere Anforderungen an die sich noch im Lernprozess befindlichen Leserinnen und Leser (s. Kap. 3) (Philipp, 2018).
1.2 Die Prozessebene der Lesekompetenz
Lesen ist eine enorme kognitive Konstruktionsleistung des Gehirns, die von emotional-motivationalen Aspekten beeinflusst wird. Die Prozessebene des obigen Modells bezieht sich deshalb zunächst auf das Verständnis davon, wie sich die einzelnen Teilkomponenten des Leseprozesses wechselseitig beeinflussen.
Das Leseverstehen und das flüssige Lesen sind eng miteinander verknüpft. So müssen Kinder flüssig lesen können, um sinnentnehmend zu lesen. Im Leseprozess wird Bedeutung generiert und damit Leseverstehen ermöglicht, d.h., der Text wird verarbeitet und dadurch verstanden.
Diese Prozesse greifen wechselwirksam ineinander und beeinflussen sich gegenseitig, weshalb man von interaktionistischen Lesemodellen spricht. In diesen wird zwischen hierarchieniedrigen und hierarchiehohen Prozessenunterschieden (Kintsch, 1998; Kintsch & van Dijk, 1978; Richter & Christmann, 2002). Hierarchieniedrige Prozesse beschreiben Teilfähigkeiten, die sich vor allem auf die Wort- und Satzebene beziehen. Hierarchiehohe Prozesse erfordern es, komplexere kognitive Fähigkeiten wie ein globales Textverständnis zu entwickeln bzw. das eigene Lesen durch die Anwendung von Strategien und Methoden zu steuern. Wichtig ist: Die Begriffe „hierarchiehoch“ und „hierarchieniedrig“ beschreiben nicht die Relevanz oder Bedeutsamkeit der Prozesse, sondern lediglich den notwendigen Umfang an kognitiven Kapazitäten auf Seiten der lesenden Person.
Situationsmodell des Leseverstehens
1.2.1 Hierarchieniedrige Prozesse
Alle Ebenen des Schriftsystems sind für das Lesenlernen relevant, beispielsweise Buchstaben (Grapheme), Wörter und Interpunktion. Im Folgenden werden die hierarchieniedrigen Prozesse der Lesekompetenz beschrieben. Die Wort- und die Satzebene haben für das Textverstehen eine zentrale Bedeutung. Leserinnen und Leser müssen Fähigkeiten zur Entschlüsselung einzelner Wörter und Sätze erworben haben, um einen Text überhaupt sinnentnehmend verstehen zu können. Wesentlich ist ebenfalls, dass sie die Struktur des Textes an sich erfassen können – also z. B. Wörter als Einheiten wahrnehmen sowie Sätze erkennen.
Wenn Kinder in der Lage sind, die Struktur des Textes zu erfassen sowie einzelne Wörter anhand der Buchstaben-Laut-Zuordnung (Graphem-Phonem-Korrespondenz) zu entschlüsseln bzw. zu dekodieren, bedeutet das aber nicht, dass sie das Gelesene auch schon verstehen. Sie müssen vielmehr weitere Teilfähigkeiten erlernen. Um diese hohen Anforderungen bewältigen zu können, müssen die einzelnen Teilprozesse von Kindern automatisiert werden, sodass sie unbewusst ablaufen. Dies gelingt durch Übung und Förderung. Die hierarchieniedrigen Prozesse hängen eng mit der Leseflüssigkeit zusammen. Zu den hierarchieniedrigen Prozessen zählen:
Dazu zählen:
- Rekodieren auf Buchstaben und Silbenebene (Lesegenauigkeit): Buchstaben erkennen und Lauten bzw. Lautfolgen zuordnen (Graphem-Phonem-Korrespondenz);
- Laute zu Wörtern „zusammenschleifen“ (Phonemsynthese);
- die Bedeutung von Wörtern kennen und mental abgespeichert haben (Wortschatz);
- Automatisierung der Worterkennung und des Dekodierens;
- eine angemessene Lesegeschwindigkeit;
- sinnentnehmendes Lesen auf Satzebene (lokale Kohärenz);
- die Fähigkeit, sinngemäße Betonungen (Prosodie) auf Wort- und Satzebene einzusetzen.
Zur Leseflüssigkeit (engl. reading fluency) zählen das korrekte Dekodieren von Wörtern (Lesegenauigkeit), die Automatisierung der Dekodierprozesse, eine angemessene Lesegeschwindigkeit sowie die sinnvolle Betonung (s. Kap. 3) (Rosebrock & Nix, 2020). Dem flüssig lesenden Kind stehen (wie in Abb. 2 dargestellt) mindestens zwei verschiedene Wege beim Prozess des Erlesens von Wörtern zur Verfügung (Coltheart et al., 2001).
1. Die direkte Route: Vereinfacht dargestellt sieht das Kind zunächst die Schrift als Ganzes und erkennt darin einzelne Buchstaben. Es kann diese jetzt direkt mit einem ganzen Wort aus dem mentalen Wortspeicher verknüpfen bzw. das Wort „abrufen“ – und zwar sowohl hinsichtlich der Buchstaben- und Lautebene (orthographisches & phonologisches Lexikon) als auch hinsichtlich der Wortbedeutung (semantisches System). Danach kann es das Wort aussprechen bzw. laut lesen.
2. Die indirekte Route: Hier sieht das Kind zunächst ebenfalls das Schriftbild als Ganzes und erkennt dann darin einzelne Buchstaben. Dann muss das Kind jedoch zuerst indirekt die einzelnen Buchstaben Lauten zuordnen und diese Laute anschließend zusammenfügen, um dann auf die Aussprache des Wortes als Ganzes zu schließen. Die Bedeutung kann dabei mitunter nicht erfasst werden, weil das bloße „Aneinanderreihen“ und Zusammenschleifen von Lauten noch keine Sinnentnahme sichern.
BEISPIEL
Das Kind soll das Wort <Nase> lesen.
Direkte Route: Das Kind erkennt die einzelnen Buchstaben und kann diese im abgespeicherten orthographischen sowie im phonologischen Lexikon, wo das Wort auch semantisch mit der Bedeutung verknüpft ist, „nachschlagen“. Die Bedeutung ist deshalb direkt und schnell klar. Und da das Kind weiß, dass es sich um die „Nase“ handelt, kann es das Wort schnell erlesen bzw. aussprechen.
Indirekte Route: Das Kind erkennt die einzelnen Buchstaben , , , als Laute und verbindet (rekodiert) diese dann mit den entsprechenden einzelnen Laute /n/ /a/ /s/ /e/. Wenn das Kind die Einzellaute anschließend zusammenzieht (Phonemsynthese), hat es zwar das Wort „Nase“ erlesen, aber kann damit nicht unbedingt die korrekte Bedeutung verknüpfen, da hier auch die Schnelligkeit bzw. Betonung und der Rhythmus etc. (Prosodie) eine wichtige Rolle spielen. Wenn beispielsweise die Betonung auf der falschen Silbe liegt, ist eine Sinnentnahme schwer möglich.
1.2.2 Hierarchiehohe Prozesse
Die hierarchiehohen Prozesse erfordern eine komplexere Beteiligung der einzelnen kognitiven Fähigkeiten. Leserinnen und Leser müssen zunächst die Inhalte des Textes in ihrer Bedeutung erfassen – z. B. die Aussage eines Satzes. Dabei sollen auch Schlussfolgerungen gezogen werden, die über den Text hinausgehen (Inferenzen).
Dazu generieren Leserinnen und Leser Informationen aus dem Text und konstruieren Sinn auf der Basis ihres eigenen Vorwissens. Es entsteht ein sogenanntes mentales Modell, d.h., die Lesenden können „sich vorstellen“, worum es im Text geht. Sie haben nicht nur verstanden, was gesagt wird, sondern auch, was gemeint ist (Gasteiger-Klicpera, 2020; Lenhard, 2019; Rosebrock & Nix, 2020).
Zu den hierarchiehohen Prozessen zählt Folgendes:
- einen logischen Zusammenhang zwischen Textteilen und über den gesamten Text hinaus herstellen; globale Kohärenz, also ein Gesamtverständnis für den Text herstellen, und Inferenzen (Schlussfolgerungen) bilden sowie
- die erfolgreiche Anwendung von Lesestrategien (s. Kap. 3).
- Superstrukturen eines Textes erfassen: Um welche Art von Text handelt es sich? Welche strukturellen Merkmale hat der Text? Wie ist er insgesamt aufgebaut? Die Superstrukturen existieren unabhängig vom Inhalt – es erfordert also eine ausgeprägte Lesekompetenz, diese erfassen zu können.
- Darstellungsstrategien des Textes verstehen: Welches Ziel wird mit dem Text verfolgt? An wen richtet sich der Text? Warum wurde der Text verfasst? Kann ich die typische Schreibweise einer Autorin bzw. eines Autors wiedererkennen?
1.2.3 Anwendung der hierarchieniedrigen und hierarchiehohen Prozesse – ein Beispiel
Wie wenden Schülerinnen und Schüler diese einzelnen Fähigkeiten der hierarchieniedrigen und -hohen Prozesse konkret an? Anhand des Lesetext-Beispiels „Auf dem Spielplatz“ wird im Folgenden veranschaulicht, wie die Kombination der Teilfähigkeiten ineinandergreift.
BEISPIEL
Auf dem Spielplatz [Lesetext]
Karim liebt es, auf dem Spielplatz mit seinen Freundinnen zu spielen
Er mag es, auf dem Klettergerüst zu balancieren und auf der Schaukel hin und her zu schwingen.
Er liebt es auch, auf dem Spielplatz zu rennen und zu lachen.
Karim und seine Freundinnen treffen sich jeden Montag auf dem Spielplatz.
Gestern waren Karim und seine Freundinnen auf dem Karussell. Sie haben viel gelacht, als es sich immer schneller gedreht hat.
Hierarchieniedrige Prozesse: Leserinnen und Leser können zentrale Informationen auf Wortebene entschlüsseln: Die Hauptfigur heißt Karim; der Schauplatz des Textes ist ein Spielplatz, dort gibt es verschiedene Spielgeräte. Möglicherweise sind Wörter wie „schwingen“ schwierig, da die Buchstaben-Laut-Zuordnung Kindern schwerfällt. Beispielsweise besteht das auf Buchstabenebene aus drei verschiedenen Buchstaben, wird aber lautlich zu einem Laut (/ʃ/).
Es können logische Schlüsse zwischen einzelnen Sätzen (lokale Kohärenz) gezogen werden, z. B. dass Karim gerne auf dem Spielplatz spielt und sich gerne auf dem Karussell dreht. Daraus kann geschlossen werden, dass das Karussell auf dem Spielplatz steht.
Die einzelnen Sätze sind durch Pronomen („er“) bzw. Rückverweise („Karim liebt es…“ – „Er mag es, auf dem Klettergerüst zu balancieren …“) verknüpft. Leserinnen und Leser müssen grundlegende Informationen aus dem Text entnehmen, um ihn zu verstehen: Es geht um jemanden, der „Karim“ heißt, um einen Spielplatz, Freundinnen und Spielgeräte.
Abb. 2: Zwei-Wege-Modell des Lesens nach Coltheart et al., 2001 (Darstellung in Anlehnung an Lenhard, 2019, S. 17; © W. Kohl-hammer GmbH, 2023)
Hierarchiehohe Prozesse: Beim Lesen der Überschrift beginnt bei den Lesenden schon die Konstruktion des mentalen Modells des Textes, da eigenes Vorwissen, Vorerfahrungen und Vorstellungen aktiviert werden. Der Kontext des Spielplatzes baut sich z. B. bei jeder Leserin bzw. jedem Leser in individuell gefärbten Variationen mental auf. Die Kinder stellen nicht nur Verbindungen innerhalb des Textes her, sondern erinnern sich vielleicht selbst an einen Besuch auf dem Spielplatz z. B. mit Freundinnen und Freunden. Dazu greifen sie auf ihre eigenen Erfahrungen zurück. Vielleicht spielen Karim und seine Freundinnen im Kopf eines kindlichen Lesers oder einer Leserin auf dem Spielplatz, den es um die Ecke gibt.
Dieses innere Modell wird während des Lesens immer weiter ausgebaut, indem die Kinder größere Zusammenhänge im Text erkennen und diese auch benennen können. Zudem kann der Text die Kinder dazu anregen, darüber nachzudenken, ob sie auch gerne auf den Spielplatz gehen oder welche Geräte sie gerne mögen. Verstehendes Lesen geht also über die eigentlichen Wörter, Sätze und Inhalte des Textes weit hinaus (Rosebrock & Scherf, 2022). Das eigene Sprach- und Weltwissen muss daher beim Lesen aktiviert werden, um Textverstehen konstruieren zu können.
Eine Zusammenstellung der einzelnen Fähigkeiten der hierarchieniedrigen und hierarchiehohen Prozesse sind selbstverständlich auch im Lehrplan Deutsch für die Primarstufe in Nordrhein-Westfalen verankert (Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2021, S. 23) (s. Tab. 1).
Leseprozesse Bezug zum Lehrplan Buchstaben-, Wort- und Satzerkennung Die Schülerinnen und Schüler (SuS) … - identifizieren häufig wiederkehrende Morpheme und Silben auf einen Blick;
- identifizieren vertraute Wörter auf einen Blick;
- erlesen Texte durch die Identifikation von Wörtern und Sätzen.
lokale Kohärenzbildung durch Verknüpfung von mehreren Sätzen und Einbezug von Sprach- und Weltwissen sowie eigenen Erfahrungen Die SuS verknüpfen Informationen in Texten bzw. Textabschnitten. globale Kohärenzherstellung über das Thema und den Inhalt des Textes Die SuS entwickeln ein Gesamtverständnis des Textes. Erkennen von Superstrukturen und Identifizieren von Darstellungsstrategien Die SuS unterscheiden angeleitet literarische Texte und Sachtexte. Tab. 1: Anforderungsdimensionen des Lesens: Prozessebene (eigene Darstellung)
Abb. 3: Individuelle Interessen und eigene Vorerfahrungen mit Büchern beeinflussen das Leseselbstkonzept.
1.3 Die Subjektebene der Lesekompetenz
Die Subjektebene des vorgestellten Modells (s. Abb. 1) beschreibt, welche Motivation und welche Emotionen Leserinnen und Leser in den Prozess des Lesens einbringen und wie sie diesen reflektieren. Wichtig ist dabei ebenfalls, welches Vorwissen sie mitbringen. Die Reflexion hinsichtlich der eigenen Meinung zum Inhalt des Textes ist besonders zentral.
Lesen ist ein dynamischer Prozess, der individuell unterschiedlich verläuft und Einfluss auf die kognitive, emotionale und soziale Entwicklung einer Person hat (Garbe et al., 2009). Jede lesende Person bildet ein sogenanntes Leseselbstkonzept aus, das von individuellen Einstellungen und Gefühlen geprägt ist und die Lesemotivation beeinflusst (s. Abb. 4).
Checkliste
Subjektebene
stärkenDas Leseselbstkonzept bezieht sich auf die individuelle Wahrnehmung und Einschätzung einer Person über ihre eigenen Fähigkeiten, Interessen und Einstellungen in Bezug auf das Lesen. Es umfasst die Überzeugungen, die eine Person über ihre eigenen Leseleistungen hat. Die individuelle Einstellung kann das eigene Leseverhalten, die eigene Leseleistung und die Bedeutung, die dem Lesen beigemessen wird, beeinflussen (Rosebrock & Nix, 2020).
Für den Unterricht ist insbesondere die Reflexion möglicher Stolpersteine im eigenen Leseprozess bedeutsam. Ein gestärktes und positives Leseselbstkonzept wirkt sich positiv auf die Lesemotivation aus (McElvany et al., 2008). Kinder, die ein negatives Leseselbstkonzept haben, weil ihnen z. B. das Lesen aus verschiedenen Gründen schwerfällt, und die deshalb weniger motiviert sind, gilt es durch gezielte Förderung zu unterstützen (s. Abb. 4).
Abb. 4: Motivationale Faktoren des Leseselbstkonzeptes (nach Goy et al., 2017)
Lebensweltliche Mehrsprachigkeit als motivationale Ressource für den Leseerwerb
Durch die sprachliche, kulturelle und im Hinblick auf ihren sozioökonomischen Status oftmals sehr heterogene Zusammensetzung im Klassenzimmer muss Unterricht viele verschiedene Voraussetzungen der Kinder beachten. So gilt es auch die Mehrsprachigkeit der Kinder zu berücksichtigen und als Ressource zu begreifen1. Das eigene Lesekonzept mehrsprachiger Kinder bildet sich beispielsweise positiv heraus, wenn Kinder auch in ihren Herkunftssprachen Texte lesen oder vorgelesen bekommen (Becker-Mrotzek, 2021; Fleckenstein et al., 2018; Gogolin & Lange, 2011; Rösch, 2014). Dies kann wiederum zu einer gesteigerten Lesemotivation beitragen (s. Abb. 4).
Mehrsprachigkeit beeinflusst, so zeigen aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse, das sprachliche Lernen positiv (Becker-Mrotzek, 2022). Wichtig ist, dass der Zugang zu Bildungssprache und Schriftsprache nicht nur in der Zweitsprache, sondern auch in der Herkunftssprache ermöglicht wird.
Im Sinne einer Sprachreflexion können auch im Leseunterricht immer wieder verschiedene Sprachen in den Fokus genommen werden (Montanari & Panagiotopoulou, 2019). Eine zentrale Unterscheidung sollte aber zwischen dem zielsprachlichen und bildungssprachlichen Lernen gemacht werden. Der Erwerb einer Zielsprache ist nicht gleichzusetzen mit dem Erwerb bildungssprachlicher Kompetenzen. Kinder müssen immer mehrere sprachliche Dimensionen der Zielsprache erlernen, um ein positives Leseselbstkonzept entwickeln zu können (Lüdtke et al., 2023). Eine besonders zentrale Funktion nehmen hier auch der Literaturunterricht und die Möglichkeit zur Schaffung von vielfältigen Leseerfahrungen ein (s. Kap. 6) (Abraham & Knopf, 2021).
1 Es ist eine weitere Handreichung in Planung, die sich fokussiert und umfassend mit dem Thema „Mehrsprachigkeit“ beschäftigen wird.
1.4 Die soziale Ebene der Lesekompetenz
Ob Kinder Lesefreude sowie ein Interesse an Büchern, Literatur und digitalen Textformen entwickeln, hängt zu einem großen Teil auch von ihrem sozialen Umfeld ab. Die Lesesozialisationsforschung zeigt, dass Personen aus dem individuellen Umfeld starke Einflussfaktoren für junge Leserinnen und Leser sind (Garbe, 2022).
Lesesozialisation bezeichnet den Prozess, durch den Menschen in ihrer Entwicklung zu (regelmäßig) Lesenden heranwachsen. Sie beginnt in der Regel im frühen Kindesalter und erstreckt sich über die gesamte Lebensspanne. Lesesozialisation beinhaltet verschiedene Faktoren wie familiäre Einflüsse, Bildungseinrichtungen, soziale Umgebung, persönliche und kulturelle Kontexte. Während der Lesesozialisation werden Personen mit verschiedenen Textformen und -modi wie Büchern, Zeitschriften und digitalen Medien konfrontiert und entwickeln dabei Lesefähigkeiten, Leseinteressen, Lesevorlieben und eine literarische Identität (Garbe et al., 2009).
Diesen Aspekt greifen Rosebrock & Nix (2020) in ihrem Modell über die soziale Ebene (s. Abb. 1) der Lesekompetenz auf. Diese umfasst Familie, Schule, Peers, weitere Bezugspersonen aus dem persönlichen Umfeld sowie im weitesten Sinne das kulturelle Leben. Ein unterstützendes soziales Umfeld ist eine wichtige Grundvoraussetzung für den Erwerb der Lesekompetenz. Die Schule und der Unterricht nehmen jedoch eine besonders zentrale Position ein, da sie allen Kindern die Möglichkeit zum Lesen sowie zu Austausch und Reflexion bieten können (Rosebrock & Nix, 2020).
Der Lesesozialisation kommt eine zentrale Rolle zu, denn sie beginnt in der Regel in der frühen Kindheit, wenn Kinder mit (digitalen) Büchern und Geschichten in Berührung kommen. Diese Early-Literacy Erfahrungen spielen eine wichtige Rolle für den späteren Leseerwerb.
Abb. 5: Auf dem Portal stift-deutschunterricht.de finden sich viele Methoden und Materialien für den digitalen und analogen Einsatz im schulischen Kontext.
Einige zentrale Fragen der Lesesozialisationsforschung sind auch für die Gestaltung und Reflexion von (Lese-)Unterricht relevant:
- Wie wird ein Kind zu einem Leser bzw. einer Leserin?
- Welche Wirkung hat das Lesen von Texten auf den Prozess der Sozialisation bzw. der Persönlichkeitsentwicklung?
Dabei steht immer die subjektive Bedeutung der jeweiligen Lektüre im Vordergrund: Was bedeutet das Lesen für das individuelle Kind? Wie ändern sich dadurch Handlungen, Sichtweisen, Interessen und Gefühle? Lesen trägt wesentlich zur Identitätsbildung von Schülerinnen und Schülern bei. Zentrale Akteurinnen und Akteure der Lesesozialisation sind (Garbe, 2022; Garbe et al., 2009):
- die Leserin bzw. der Leser selbst mit eigenen motivationalen, emotionalen und kognitiven Voraussetzungen. Hier besteht eine enge Verbindung zwischen der individuellen Lesesozialisation und dem eigenen Leseselbstkonzept.
- die Familie, die Schule bzw. das Bildungssystem und die Peers sowie
- die Gesellschaft und ihre zum Teil unterschiedlichen Normen.
Aber nicht alle Kinder wachsen in einem Umfeld auf, in dem Bücher oder die Schriftsprache zum Alltag gehören. Besonders diese Kinder gilt es an das Lesen und den Umgang mit Texten sowie mit Literatur heranzuführen. Dabei spielen aber nicht nur Bücher eine wichtige Rolle, sondern auch der Zugang zu Zeitschriften, Zeitungen, digitalen Medien, Apps und Bilderbüchern.
Die Anschlusskommunikation, also das Sprechen und Reflektieren von Texten bzw. über Textinhalte, ist wesentlicher Bestandteil des Leseunterrichts. Damit hat Schule die bedeutende Aufgabe, einen Zugang zu literalen Welten und damit zu Lesesozialisationserfahrungen zu eröffnen bzw. solche Zugänge zu erweitern. In Kapitel 3, 5 und 6 finden sich konkrete Hinweise zur Leseförderung, Lesekultur und zu möglichen Methoden, wie dies in schulischer Praxis umgesetzt werden kann. Kinder können und sollen in der Schule für Texte begeistert und zum Lesen motiviert werden (Rose et al., 2021; Rosebrock & Scherf, 2022).
INFO
Wie können Kinder an Texte und an das Lesen herangeführt werden?
Rosebrock & Scherf, 2022- auf Buchstaben- und Lautebene anfangen
- Silben nutzen
- Reime üben
- mit einzelnen Wörtern beginnen
- kurze Sätze erlesen lassen
- kürzere Texte bestehend aus mehreren kurzen Sätzen zur Verfügung stellen
- längere Texte mit komplexeren Satzstrukturen wählen
- das Lesen von Ganzschriften vorbereiten
- Lesevorbilder schaffen
- Austausch (Anschlusskommunikation) anregen
- Lesekultur an der Schule aktiv (mit)gestalten
- bei der Lektürewahl die Interessen der Kinder berücksichtigen
- digitale Bearbeitungsmöglichkeiten und multimodale Texte wählen
Eine anregende Leseumgebung verknüpft freie Zeit zum Lesen, Stöbern und Kennenlernen verschiedener schriftsprachlicher Kontexte miteinander. Dabei sollen immer wieder konkrete Fördermethoden der Teilfähigkeiten des Lesens eingebaut werden (Rosebrock & Scherf, 2022) (s. Kap. 3).
Ziel ist es, nicht nur die einzelnen Fähigkeiten der Lesekompetenz im Unterricht zu fokussieren, sondern letztendlich eine übergreifende schulische Lesekultur zu entwickeln, an der alle Kinder teilhaben können (s. Kap. 6).
Bei Kindern mit Schwierigkeiten im Leseerwerb reicht eine stabile Unterstützung im sozialen Umfeld oder die Möglichkeit der Reflexion im Unterricht allerdings nicht aus. Diese Schülerinnen und Schüler brauchen gezielte individualisierte Unterstützungsmaßnahmen (Mayer, 2021; Lüdtke & Stitzinger, 2017) (s. Kap. 4 & 5).
KURZ & KNAPP
Was ist die Lesekompetenz?
- Lesekompetenz setzt sich aus kognitiven Teilfähigkeiten sowie subjektiven und sozialen Komponenten zusammen.
- Early-Literacy-Erfahrungen sind eine wichtige Voraussetzung für den Leseerwerb.
- Zwischen der Lesesozialisation und dem eigenen Leseselbstkonzept besteht eine intensive Wechselbeziehung.
- Die Reflexion des Lesens und des eigenen Leselernprozesses sind wichtige Bestandteile von Unterricht.
- Kinder mit Schwierigkeiten im Lesenlernen bedürfen einer gezielten individualisierten Förderung.
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