-
5. Wie können Kinder mit Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens gezielt unterstützt werden?
Während die meisten Kinder die Entwicklungsaufgabe „Schriftspracherwerb“ weitgehend problemlos bewältigen, stellt das Lesenlernen für eine nicht unerhebliche Anzahl an Kindern eine besondere Herausforderung dar. Dies haben auch die aktuellen IQB-Ergebnisse (Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen) gezeigt (Stanat et al., 2022)
Viele dieser Kinder erfüllen nicht die Kriterien, die für die Feststellung einer Lese-Rechtschreib-Störung notwendig sind, benötigen aber dennoch frühestmöglich intensive, fokussierte und systematische Unterstützungsmaßnahmen im Unterricht. Damit soll verhindert werden, dass sich die unterschiedlichen Schwierigkeiten im Leseerwerb zu Störungen entwickeln und dadurch den Bildungsverlauf insgesamt negativ beeinflussen. Da die in Kapitel 3 dargestellte grundlegende Leseförderung für diese spezifische Teilgruppe nicht ausreicht, werden in diesem Kapitel ergänzend Möglichkeiten der gezielten Unterstützung im Unterricht aufgezeigt. Basis hierfür bildet die umfassende und kontinuierliche Diagnostik der Lesekompetenz (s. Kap. 4).
Im Folgenden werden praxisnahe Umsetzungsmöglichkeiten für eine gezielte Unterstützung gegeben, indem folgende Fragen beantwortet werden:
- Wie können die Vorläuferfähigkeiten fokussiert gefestigt werden? (s. Kap. 5.1)
- Wie kann der Erwerb der phonologischen Bewusstheit fokussiert unterstützt werden? (s. Kap. 5.2)
- Wie kann der Erwerb der Graphem-Phonem-Korrespondenzen gezielt unterstützt werden? (s. Kap. 5.3)
- Wie kann das Erlernen des phonologischen Rekodierens intensiv gefördert werden? (s. Kap. 5.4)
- Womit kann die Automatisierung der Worterkennung gezielt gefestigt werden? (s. Kap. 5.5)
- Wie kann eine intensive Unterstützung im Bereich des sinnentnehmenden Lesens gestaltet werden? (s. Kap. 5.6)
Ergänzend wird die neu entwickelte Methoden- und Materialsammlung LESE-FOKUSplus überblicksartig vorgestellt, welche im Austausch mit der Schulpraxis kontinuierlich weiterentwickelt wird. Sie ist eine systematisch aufgebaute Erweiterung des Methodenpools LESE-FOKUS (s. Kap. 3) für die spezifische Teilgruppe der Schülerinnen und Schüler mit besonderen Herausforderungen im Leselernprozess, die sich in jeder Klasse finden. An ausgewählten konkreten Beispielen zur Leseflüssigkeit und zum Leseverstehen wird dargestellt:
- Wie kann LESE-FOKUSplus für die Förderung von Kindern mit Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens gezielt eingesetzt werden? (s. Kap. 5.7)
5.1 Wie können die Vorläuferfähigkeiten fokussiert gefördert werden?
Vorläuferfähigkeiten spielen eine wichtige Rolle für das Lesenlernen (s. Kap. 2). Kinder mit Schwierigkeiten im Schriftspracherwerb benötigen häufig besondere Unterstützung im Bereich der Vorläuferfähigkeiten, da diese noch nicht genügend ausgeprägt sind.
Die phonologische Defizithypothese, für deren Gültigkeit die meisten empirischen Belege vorliegen und die bis heute kontinuierlich ausdifferenziert und modifiziert wird, wurde bereits vor etwa 35 Jahren von Stanovic (1988) erstmalig beschrieben. Mit ihr wird davon ausgegangen, dass den meisten Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb Probleme mit der bewussten Identifizierung und Verarbeitung von Informationen über die Lautstruktur der Sprache zugrunde liegt.
Konkret wird darunter verstanden, dass Probleme bei der Speicherung und Verarbeitung im Arbeitsgedächtnis sowie beim schnellen und automatisierten Zugriff auf phonologische Repräsentationen im Langzeitgedächtnis den Schriftspracherwerb erschweren können.
Phonologische
DefizithypotheseTrotz kontroverser Diskussionen und einiger Anpassungen werden diese Funktionen seit einer Publikation von Wagner & Torgesen (1987) üblicherweise unter dem Begriff der phonologischen Informationsverarbeitung zusammengefasst. Ihr werden die phonologische Bewusstheit, das sprachliche Arbeitsgedächtnis sowie die Benennungsgeschwindigkeit zugeordnet (s. Abb. 29).
Dabei spielen bestimmte sprachliche Fähigkeiten eine wichtige Rolle. Der Lehrplan Deutsch für die Primarstufe in Nordrhein-Westfalen formuliert: „Sofern Kinder diese [grundlegenden Vorläuferfähigkeiten] bei Schuleintritt nur teilweise oder unzureichend mitbringen, müssen diese zunächst aufgebaut werden, um ein erfolgreiches Weiterlernen zu gewährleisten“ (Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2021, S. 17). Weitere Hinweise zu den relevanten Vorläuferfähigkeiten finden sich in Kapitel 2.
Was müssen Kinder sprachlich können, um Schriftsprache verarbeiten und nutzen zu können (sowohl beim Lesen als auch beim Schreiben)?
- Speicherung und Verarbeitung der Lautstruktur von Buchstaben, Silben oder Wörtern im Arbeitsgedächtnis.
BEISPIEL
Schwierigkeiten in diesem Bereich tauchen vor allem beim synthetisierenden Lesen auf. Beim synthetisierenden Lesen werden Buchstaben in Laute umgewandelt. Diese müssen im Arbeitsgedächtnis gespeichert werden, während gleichzeitig die anderen Buchstaben des Wortes verarbeitet werden. Ist die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses beeinträchtigt, werden beim Buchstabe-für-Buchstabe-Lesen die zuerst umgewandelten Laute wieder gelöscht. Da das lesende Kind die ersten Laute des Wortes dann wieder „vergessen“ hat, kann es nicht auf diese zurückgreifen und der Syntheseprozess wird unterbrochen.
- Schneller und automatisierter Zugriff auf Informationen über Laute (phonologische Repräsentationen), die im Langzeitgedächtnis gespeichert werden
BEISPIEL
Wenn das Kind nicht schnell und automatisiert Buchstaben erkennen und auf die korrespondierenden Laute zugreifen kann, dann zieht sich das phonologische Rekodieren in die Länge. Das bedeutet, dass das Kind Wörter nur sehr langsam erlesen kann. Außerdem kann das Kind durch eine verlangsamte Aktivierung der Einzellaute seine Aufmerksamkeit nicht auf häufig vorkommende Buchstabenfolgen lenken. Mehrere Buchstaben parallel verarbeiten zu können, ist aber ein entscheidender Schritt in der Automatisierung der Worterkennung.
- Bewusste Identifizierung und Verarbeitung von Informationen über die Lautstruktur der Sprache.
BEISPIEL
Kinder haben Schwierigkeiten beim Zusammenziehen von Lauten zu Wörtern:
/o/ – /m/ – /a/ → Oma5.2 Wie kann der Erwerb der phonologischen Bewusstheit fokussiert unterstützt werden?
Eine Förderung der Vorläuferfähigkeiten (z. B. der phonologischen Bewusstheit) kann Schülerinnen und Schüler grundlegend auf den Schriftspracherwerb vorbereiten. Lesen und Schreiben selbst werden aber insbesondere durch die Anwendung im Symbolsystem der Schriftsprache erlernt (s. Kap. 5.3 – 5.5). Für Kinder, die besonderen Unterstützungsbedarf im Schriftspracherwerb haben, eignet sich besonders die phonologische Bewusstheit als Förderfokus (Mayer, 2022b).
Vorläuferfähigkeiten
5.2.1 Kriterien für die Unterstützung im Bereich der phonologischen Bewusstheit
- Drei bis vier ca. 30-minütige Fördereinheiten pro Woche im ersten Halbjahr des ersten Schuljahres wären ideal.
Während die meisten Förderprogramme mit Übungen zum Reimen und Aufgaben mit Silben beginnen, sollten Lehrkräfte der ersten Klassen an Grundschulen parallel zum Schriftspracherwerb insbesondere die Bewusstheit auf Lautebene, also die Anlautidentifizierung (Was hörst du am Anfang von …?), das Zusammenfügen von Lauten (Phonemsynthese) (Welches Wort ergibt sich, wenn du die Laute /z/ /o/ /f/ /a/ zusammenfügst?) und die Zerlegung von Wörtern in seine einzelnen Laute (Phonemsegmentation: Welche Laute hörst du im Wort „Sofa“?) fokussieren. Diese stehen in besonders engem Zusammenhang mit dem Schriftspracherwerb.
- Bei den entsprechenden Aufgaben sollten unterschiedliche Schwierigkeitsgrade innerhalb der Aufgabenstellung berücksichtigt werden. Das Wortmaterial sollte anhand sprachwissenschaftlicher Kriterien (s. Kap. 5.2.2) ausgewählt werden.
- Insbesondere Kinder, die mit der phonologischen Verarbeitung von Wörtern noch Schwierigkeiten haben, profitieren davon, wenn auditive Aufgaben zur Phonemanalyse durch eine Schriftorientierung, also das gleichzeitige Angebot des gedruckten Wortes unterstützt werden (s. Handreichung „Hinweise und Materialien für einen systematischen Rechtschreibunterricht in der Primarstufe in NRW“).
5.2.2 Sprachwissenschaftlich orientierte Wortauswahl
Um den Kindern die Phonemsynthese und die Phonemsegmentation möglichst effizient zu vermitteln, sollten sich Lehrkräfte bei der Wortauswahl an folgenden Kriterien orientieren:
- Zu Beginn ausschließlich ein- und zweisilbige Wörter mit Vokalen und dauerhaft artikulierbaren Konsonanten (Frikative, Nasale, Liquide) auswählen, da diese gedehnt artikuliert werden können und dadurch die einzelnen Laute deutlicher wahrnehmbar sind.
- Frikative: z.B. /f/, /r/ und /sch/
- Nasale: z.B. /m/, /n/ und /ng/
- Liquide: z.B. /l/
- Verwendung von Wörtern mit einer einfachen Konsonant-Vokal-Silbenstruktur (z.B. „Sofa“, „Oma“, „Susi“, „Maus“). Vermeiden Sie Wörter mit Konsonantenhäufungen (z. B. „Brief“, „Schleim“).
- Was die Vokale angeht, sollten Sie Wörter mit betontem Vokal in der ersten Silbe wählen („Riese“, „Sofa“).
- Erst wenn die Kinder mit der Synthese und Segmentation von Wörtern mit diesen Strukturen Sicherheit gewonnen haben, sollten Wörter mit Plosiven (/p/, /t/, /k/, /b/, /d/, /g/) integriert werden.
Folgende grundlegende Bereiche unterstützen die Förderung der phonologischen Bewusstheit (vgl. Mayer, 2021):
- Verwendung von phonematischen Handzeichen (s. Abb. 31, Kap. 5.2.3),
- Übungen zur Lautidentifizierung (s. Kap. 5.2.4),
- Übungen zur Phonemsynthese,
- Übungen zur Phonemsegmentation und
- sprachwissenschaftlich fundierte Wortauswahl.
5.2.3 Phonematische Handzeichen
Worum geht es?
Phonematische Handzeichen sind mit der Hand gebildete Zeichen für einzelne Laute (s. Abb. 31). Sie machen sichtbar, was die Kinder auditiv (noch) nicht verarbeiten können. Durch einen gleitenden Übergang zwischen den einzelnen Handzeichen kann die Verschmelzung einzelner Laute zu Wörtern (= Phonemsynthese) visualisiert werden.
Handzeichen
Wie kann es umgesetzt werden?
Die Handzeichen sollten mit jeder neuen Buchstaben-Laut-Verknüpfung (Graphem-Phonem-Korrespondenz = GPK) neu eingeführt werden. Um den Abruf der GPK zu automatisieren, bietet es sich an, in jeder Lesestunde Übungen durchzuführen, die die Verknüpfung zwischen Lauten, Buchstaben und Handzeichen fokussieren (s. Kap. 5.3).
5.2.4 Lautidentifizierung
Worum geht es?
Das Kind muss einzelne Laute innerhalb von Wörtern, aber auch besonders am Wortanfang erkennen und zuordnen können.
Wie kann es umgesetzt werden?
Schritt 1: „Hörst du ein /o/ in Ofen?“ Ein einzelner Laut und ein Wort werden von der Lehrkraft vorgegeben. Die Kinder entscheiden, ob der vorgegebene Laut mit dem Anlaut des Wortes übereinstimmt. Der vorgegebene Laut sollte so vorgetragen werden, wie er im Wort klingt. Die Lehrkraft muss daher insbesondere die unterschiedlichen Klangqualitäten der Vokale beachten, z. B. das /e/ in „Esel“ vs. in „Ente“ sprechen.
Lautidentifizierung
Schritt 2: Anlautkategorisierung, Anlautidentifizierung: Anhand von Fragen wie „Mit welchem Laut beginnt …?“ und „Welche Wörter klingen am Anfang gleich?“ lernen die Kinder, Wörter nach ihren Anfangslauten zu sortieren bzw. zu benennen.
Wichtig: Schwierigkeitshierarchie für beide Aufgabentypen beachten:
- betonte Vokale: /o/, /a/, /i/;
- gedehnt artikulierbare Konsonanten: /m/, /n/, /r/, /s/, /f/, /l/;
- Plosive: /p/, /t/, /k/, /b/, /d/, /g/;
- Konsonantenhäufungen: Treppe, Klammer, Straße.
Beispielhaftes Wortmaterial
- Igel, Oma, Opa, Esel, Ameise, Elefant
- Meer, Nase, Milch, Regen, Sonne, Feder, Lampe, Leine, Nadel, Mond
- Topf, Karte, Gans, Tomate, Gurke, Banane, Ball, Buch, Dach, Tasche, Kamel
- Schlange, Fliege, Treppe, Klammer, Flügel, Bremse, Brezel, Flosse, Stiefel
5.2.5 Phonemsynthese
Worum geht es?
Die Phonemsynthese wenden Schülerinnen und Schüler beim Erlernen des zusammenschleifenden Lesens an. Diese Fähigkeit sollte zunächst ohne Schriftsprache, also nur in der lautsprachlichen Modalität eingeübt werden. Dabei sollen die Kinder isoliert präsentierte Laute zu einem Wort verschmelzen.
Wie kann es umgesetzt werden?
Schritt 1: Unterstützung durch Bildmaterial.
Bilder können die Kinder beim Verstehen des Aufgabenformats unterstützen und steuern die Aufmerksamkeit. Bilder geben mögliche korrekte Lösungen vor. In diesem Schritt dürfen sich die dargestellten Gegenstände etc. deutlich unterscheiden, z.B. Hut und Elefant.Phonemsynthese
Schritt 2: bewusste Auswahl des eingesetzten Bildmaterials.
Je ähnlicher die Namen der zur Unterstützung eingesetzten Bilder sind, desto komplexer wird die Aufgabenstellung.Schritt 3: Verzicht auf Bildmaterial – sprachwissenschaftlich orientierte Wortauswahl.
Damit die Kinder die Phonemsynthese im engeren Sinn erlernen, muss im Laufe der Unterstützung möglichst schnell auf Bildmaterial als Unterstützung verzichtet werden. Da aber nicht alle Laute, Silbenstrukturen etc. für Kinder denselben Schwierigkeitsgrad aufweisen, ist die bewusste Auswahl des Wortmaterials, an dem sie die Phonemsynthese einüben sollen, von zentraler Bedeutung. Bei allen Übungen zur Phonemsynthese sollten die erlernten Handzeichen eingesetzt werden. Indem die Lehrkraft die einzelnen Handzeichen ineinander übergehen lässt, wird den Kindern die Phonemsynthese veranschaulicht.Beispiel
1. Bilder für Kinder sichtbar im Klassenraum platzieren: z.B. Flasche, Telefon.- Die Lehrkraft präsentiert die isolierten Laute /b/ /a/ /l/.
- Die Kinder sollen hören, welches Wort gemeint ist.
- Um das gemeinte Bild zu finden, ist keine echte Syntheseleistung notwendig, ein Höreindruck reicht aus.
2. Bilder zentral präsentieren: Buch, Burg und Bus.
- Die Lehrkraft benennt die isolierten Laute /b/ /u/ /s/. Die Kinder sollen erraten, welches Wort gemeint ist.
- Um das gemeinte Bild zu finden, müssen die Kinder die einzelnen Laute zum gemeinten Wort synthetisieren, ein Höreindruck reicht nicht mehr aus.
5.2.6 Phonemsegmentation
Worum geht es?
Bei der Zerlegung eines Wortes in seine Einzellaute (Phonemsegmentation) handelt es sich um eine komplexe Fähigkeit. Schülerinnen und Schülern sollten für den Erwerb dieser Kompetenz ausreichend Zeit und vielfältige motivierende Übungsmöglichkeiten erhalten.
Die Kinder benötigen unterschiedliche Hilfestellungen, die es ihnen ermöglichen, Wörter zu ‚knacken‘.
Die Lehrkraft ist dabei Vorbild und verdeutlicht den korrekten Ablauf.
Phonemsegmentation
Wie kann es umgesetzt werden?
Für einen motivierenden Einstieg in die Phonemsegmentation können eine Schnecke und ein Roboter als Identifikationsfiguren dienen.
Die Schnecke ist das Modell für ein stark verlangsamtes und gedehntes Sprechen. Durch diese Sprechweise wird die Lautstruktur des Wortes besser wahrnehmbar und es gelingt den Kindern, einzelne Laute in Wörtern zu identifizieren. Der Roboter spricht abgehackt in einzelnen Lauten (/r/ /o/ /t/). Indem die Kinder versuchen, die Schnecke und den Roboter zu verstehen, üben sie die Phonemsynthese. Indem sie versuchen, die Sprechweise der Schnecke und des Roboters nachzuahmen, wenden sie die Phonemsegmentation an.
Beispiel
Schritte der Phonemsegmentation:- Das Wort, das segmentiert werden soll, wird langsam, deutlich und leicht gedehnt vorgesprochen.
- Die Kinder hören genau zu und achten auf die bewusst ausgeprägten Mundbewegungen.
- Die Kinder wiederholen das Wort.
- Das Wort wird artikuliert, die einzelnen Laute werden mit Hilfe von Handzeichen visualisiert. Die Kinder wiederholen das Wort unter Verwendung der Handzeichen.
- Mehrsilbige Wörter sollten in Silben zerteilt vorgesprochen werden. Die Kinder wiederholen.
- Der erste Laut der ersten Silbe wird artikuliert und ein Stein wird für diesen Laut in das erste Kästchen gelegt. Der zweite Laut wir gedehnt artikuliert und ein Stein in das zweite Kästchen gelegt usw. (anschließend analog für die folgenden Silben).
Hinweis: Im LESE-FOKUSplus finden sich auch Materialien zu den weiteren im Lehrplan verorteten Vorläuferfähigkeiten der Wortbewusstheit, der syntaktischen Bewusstheit sowie der pragmatischen Bewusstheit (s. Kap. 5.7).
5.3 Wie kann der Erwerb der Graphem-Phonem-Korrespondenzen gezielt unterstützt werden?
Eine wesentliche Aufgabe des schriftsprachlichen Anfangsunterrichts besteht darin, die Kinder dabei zu unterstützen, qualitativ hochwertige visuelle Repräsentationen der Buchstaben abzuspeichern und diese mit den entsprechenden Phonemen zu verknüpfen.
Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf beim Schriftspracherwerb haben üblicherweise keine größeren Schwierigkeiten, sich die GPK einzuprägen. Sie machen beim Benennen von Buchstaben nicht wesentlich mehr Fehler als durchschnittlich lesende Kinder, sind dabei aber deutlich langsamer. Sie haben also Schwierigkeiten, die Verknüpfung zwischen den Buchstaben (Graphemen) und den dazugehörenden Lauten (Phonemen) zu automatisieren.
Emotionsspiele
FÜR DEN UNTERRICHT
Die Automatisierung der Graphem-Phonem-Korrespondenz muss im Unterricht immer wieder gefördert werden. Es bietet sich an, entsprechende Übungen und Spiele täglich für fünf bis zehn Minuten in den Unterrichtsvormittag zu integrieren. Aufmerksamkeit ist dabei auf die assoziative Verknüpfung zwischen dem Buchstaben und dem entsprechenden Phonem zu legen (s. Kap. 5.3.1).
5.3.1 Anlauttabellen
Mit Hilfe der Anlauttabelle erlernen die Kinder die GPK, indem sie eine Assoziation zwischen dem Bild, dem Anlaut des abgebildeten Gegenstands und dem Buchstaben daneben ausbilden („Das ist eine Ameise und das ist das wie bei der Ameise.“).
Anlauttabelle
Damit auch Schülerinnen und Schüler mit Herausforderungen im Schriftspracherwerb zielgerichtet mit der Anlauttabelle arbeiten können, sollte darauf geachtet werden, dass sie bereits in der Lage sind, die Anlaute von Wörtern problemlos zu identifizieren (Stichwort: Unterstützung beim Erwerb der phonologischen Bewusstheit, s. Kap. 5.2). Die Anlauttabelle ist, wenn die folgenden Kriterien berücksichtigt werden, auch für Kinder geeignet, die der Schriftspracherwerb vor besondere Herausforderungen stellt.
Übungswortschatz
Kriterien zur Verwendung und Bewertung einer Anlauttabelle
Folgende Kriterien sollten bei der Beurteilung der Qualität einer Anlauttabelle berücksichtigt werden:
- Vermeidung von Wörtern mit komplexen Lautfolgen, insbesondere von Wörtern mit Konsonantenhäufungen im Anlaut (z. B. „Krokodil“ für /k/);
- Vermeidung komplexer mehrsilbiger Wörter (z. B. „Kalender“ für /k/ oder „Dinosaurier“ für /d/);
- Vermeidung von Wörtern, die mit dem Buchstabennamen beginnen (z. B. „Kamel“ für /k/ oder „Tee“ für /t/);
- Vermeidung von Anlautbildern, die semantisch nicht eindeutig sind (z. B. das Bild eines Schiffs für /ʃ/) à Verwendung von Bildern, die nach Möglichkeit nur ein einziges Wort aktivieren;
- Verwendung kurzer ein- bis zweisilbiger Wörter mit einfacher Konsonant-Vokal-Struktur (z. B. „Hut“ für /h/);
- Verwendung von Wörtern aus der Erfahrungswelt der Kinder, die auch sprachlich beeinträchtigte Kinder verstehen können;
- Verwendung aktueller, diversitätssensibler Bilder;
- Verwendung von Wörtern und Bildern aus verschiedenen semantischen Bereichen; diese lassen sich leichter einprägen; Anlauttabellen, die z. B. nur Tiere verwenden, führen bei Kindern mit lexikalischen Schwierigkeiten leicht zu Verwechslungen;
- ausschließliche Berücksichtigung des Buchstabens (Basisgraphem), der am häufigsten für einen bestimmten Laut (Phonem) steht (z. B. <f>, <s>, <i>, <k>).
WICHTIG
Buchstaben (z. B. , <invalid ß>, , ), deren Verwendung in der alphabetischen Phase nicht hergeleitet werden kann, da sie orthographische Besonderheiten widerspiegeln, müssen im Rahmen des Rechtschreibunterrichts behandelt werden. Sie sind auf der Anlauttabelle überflüssig.</invalid>
Bei der Arbeit mit der Anlauttabelle handelt es sich um einen motivierenden Ansatz, der aber hohe Ansprüche an die Konzentrationsfähigkeit und die phonologische Bewusstheit stellt. Aus diesem Grund sollte bei der Auswahl einer geeigneten Anlauttabelle stets darauf geachtet werden, inwiefern diese Kinder in phonologischer und/oder lexikalischer (in Bezug auf den vorhandenen Wortschatz) Hinsicht überfordern könnte. Dies kann besonders bei Kindern mit beeinträchtigtem Schriftspracherwerb der Fall sein.
INFO
Hinweis zu Anlauttabellen
Anlauttabellen werden häufig mit dem Spracherfahrungsansatz bzw. mit dem Ansatz „Lesen durch Schreiben“ verknüpft. Sie stützen das alphabetische Prinzip der Schrift und können deshalb gerade im Anfangsunterricht eingesetzt werden, damit Schülerinnen und Schüler sich schriftlich ausdrücken können. Auf diese Weise entdecken die Kinder das phonologische Prinzip von Schriftsprache für sich und üben es. Jede Anlauttabelle sollte kritisch unter den genannten Kriterien betrachtet werden. Dabei ist zu prüfen, ob sie für die Praxis anwendbar ist. Zur Unterstützung der Graphem-Phonem-Korrespondenz ist sie jedoch ein geeignetes Hilfsmittel./
5.3.2 Systematische Buchstabenanalyse
Über die Arbeit mit der Anlauttabelle hinaus ist es besonders für Kinder mit besonderen Herausforderungen im Schriftspracherwerb empfehlenswert, die einzelnen Buchstaben zusätzlich systematisch einzuführen und zu analysieren. Dabei sollte sich die Lehrkraft bei der Reihenfolge der fokussierten Buchstaben an einer sprachwissenschaftlich fundierten Systematik orientieren.
FÜR DEN UNTERRICHT
Wie kann bei der systematischen Buchstabenanalyse vorgegangen werden?
Lange und betonte Varianten der Vokale einführen (z. B. <a> bzw. /a:/ wie in Ameise, <e> bzw. /e:/ wie in Esel, <i> bzw. /i:/ wie in Igel, <o> bzw. /o:/ wie in Oma.
Dehnbare Konsonanten (Kontinuenten) analysieren. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass stimmlose und stimmhafte Varianten derselben Lautklasse (z.B. /f/ wie in Fisch und /v/ wie in Welle) und phonologisch ähnlich klingende Phoneme (z. B. /m/ und /n/) nicht unmittelbar nacheinander behandelt werden.
Erst nachdem die Schülerinnen und Schüler Vokale und dehnbare Konsonanten lautlich voneinander unterscheiden können, die entsprechenden Buchstaben sicher beherrschen und Wörter mit diesen Strukturen synthetisieren können (s. Kap. 5.4), sollten Plosive (/p/, /t/, /k/, /b/, /d/, /g/) eingeführt werden, wobei auch hier darauf zu achten ist, dass stimmlose und stimmhafte Varianten nicht aufeinanderfolgend thematisiert werden (z. B.<p> bzw. /p/ und <b> bzw. /b/).
Inhalte einer Buchstabenanalyse
Es ist zu empfehlen, dass in der Arbeit mit Schülerinnen und Schülern, die möglicherweise Schwierigkeiten im Leseerwerb haben, im ersten Schuljahr etwa einmal pro Woche eine GPK systematisch analysiert wird.
BEISPIEL
Lebensrealitätsnahe Beispiele für die Buchstabenanalyse
/a/ Beim Arztbesuch muss das Kind den Mund weit öffnen und /a/ sagen, damit der Arzt in den Hals des Kindes sehen kann
/f/ als Geräusch, das ein Fahrradreifen macht, wenn Luft ausströmt
/z/ als Geräusch einer summenden Biene, die über eine Blumenwiese fliegt
/n/ als Geräusch eines Formel-1-Autos, das über die Rennstrecke rast
/d/ als Geräusch eines Wassertropfens (undichter Wasserhahn)
Wie kann das im Unterricht aussehen?
In dieser Unterrichtsstunde sollte die Aufmerksamkeit der Kinder auf unterschiedliche Aspekte des Buchstabens bzw. des Lautes gelenkt werden. Während in den meisten Arbeitsbüchern der Grundschulpädagogik Wörter mit dem „neuen“ Buchstaben den Ausgangspunkt der Buchstabenanalyse bilden, ist insbesondere bei Kindern, die mit der Verarbeitung phonologischer Informationen noch Schwierigkeiten haben, zu empfehlen, den Laut als Ausgangspunkt der Buchstabenanalyse zu wählen.
Buchstabenanalyse
Um die Kinder zu motivieren, den Laut, der im Fokus der Stunde steht, möglichst hochfrequent zu produzieren, wählt die Lehrkraft eine Lautgeschichte, in der der Laut für ein bestimmtes Geräusch steht, das die Lehrkraft und die Kinder abwechslungsreich, d.h., in unterschiedlicher Lautstärke, Tonhöhe, Geschwindigkeit etc. produzieren.
INFO
In welcher Reihenfolge können die Buchstaben im Unterricht eingeführt werden?
Vokalkurs:
A, a, I, i, O, o, E, e, U, uDie ersten Konsonanten:
M, m, S, s, R, r, F, f, L, l, N, n, W, w, P, p, K, k, T, t, B, b, G, g, D, d, H, h5.4 Wie kann das Erlernen des phonologischen Rekodierens intensiv gefördert werden?
Unter phonologischem Rekodieren wird ein synthetisierendes Lesen verstanden, bei dem die einzelnen Buchstaben eines Wortes in Laute umgewandelt (rekodiert) und verschmolzen (koartikulatorisch synthetisiert) werden (s. Abb. 33).
Bei dieser Strategie handelt es sich um eine schriftsprachliche Technik, die Kinder erlernen müssen, um die Lesefertigkeit sukzessive zu automatisieren. So können sie langfristig das Ziel des Leseunterrichts erreichen: die sinnentnehmende Verarbeitung von Texten.
Silbenpuzzle
WICHTIG
Es ist es von zentraler Bedeutung, dass es Lehrkräften gelingt, allen Kindern während des ersten Schuljahres das phonologische Rekodieren möglichst effizient zu vermitteln. Auch Kinder mit einem Risiko für Schwierigkeiten im Leseerwerb sollten das alphabetische Prinzip nach etwa einem halben Jahr verstanden und am Ende der ersten Klasse vollständig erlernt haben.
Kinder, die Schwierigkeiten mit dem Erlernen des phonologischen Rekodierens haben, weisen häufig Schwierigkeiten mit der Automatisierung der Worterkennung auf. Das führt häufig zu anhaltend niedrigeren Leistungen im Lesen über die gesamte Bildungsbiographie hinweg (Landerl & Wimmer, 2008; Schneider, 2019; Valtin, 2015).
Der entscheidende Schritt für die Automatisierung der Worterkennung ist die Vergrößerung der schriftsprachlichen Einheiten, die als Ganzheiten erkannt werden können. Damit stellt das erfolgreiche phonologische Rekodieren auch eine zentrale Voraussetzung für die Automatisierung dar. Je schneller und müheloser Kinder Buchstaben in Laute umwandeln und zusammenfügen, desto besser wird es ihnen gelingen, ihre Aufmerksamkeit auf größere schriftsprachliche Einheiten zu lenken und diese ganzheitlich-simultan zu verarbeiten sowie mit der entsprechenden Phonologie zu verknüpfen.
WICHTIG
Für Kinder mit möglichen Schwierigkeiten im Schriftspracherwerb sollten Übungen zunächst auf der Silben- und Wortebene erfolgen und losgelöst von inhaltlichen Aufgaben sein. Zweifelsfrei benötigen diese Kinder auch eine gezielte Unterstützung beim sinnentnehmenden Lesen.
Praxisanregungen: Die verwendeten Materialien sollten ausschließlich dem strukturierten Lernen der Technik des phonologischen Rekodierens dienen. Sie zielen nicht auf eine Förderung des sinnentnehmenden Lesens ab. Das phonologische Rekodieren kann bei Kindern mit Schwierigkeiten im Leseerwerb eine wichtige Fähigkeit sein, die isoliert gefördert werden sollte. Materialien hierzu finden sich auch im LESE-FOKUSplus (s. Kap. 5.7).
5.5 Wie kann die Automatisierung der Worterkennung gezielt gefestigt werden?
Die Kernproblematik von Kindern mit Schwierigkeiten im Leseerwerb ist die stark beeinträchtigte automatisierte Worterkennung trotz relativ großer Sicherheit bei der Anwendung des phonologischen Rekodierens (Karageorgos et al., 2020; Wimmer, 1993). Da diese Kinder einen Großteil ihrer kognitiven Ressourcen auf die lesetechnische Bewältigung eines Textes lenken müssen, also z. B. einzelne Buchstaben in Laute umwandeln und synthetisieren, stehen ihnen kaum noch Kapazitäten für die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Gelesenen zur Verfügung. Damit stellen Schwierigkeiten im Leseverstehen eine unmittelbare Konsequenz beeinträchtigter Automatisierungsprozesse dar.
Automatisierung der
WorterkennungWas bedeutet das für den Unterricht?
- Indem die automatisierte Worterkennung gefördert wird, wird auch das Leseverstehen gefördert.
- Je automatisierter die Worterkennung, d.h., je weniger bewusste Aufmerksamkeit auf das Entziffern und Zusammenbringen von Lauten und Buchstaben gelenkt werden muss, desto mehr kognitive Ressourcen stehen für die hierarchiehöheren Fähigkeiten der Verarbeitung auf Satz- und Textebene (lexikalische und grammatische Phänomene) zur Verfügung (Kap. 3).
- Die Worterkennung automatisiert sich, indem die Kinder nach und nach immer größere Einheiten von Schriftsprache entziffern: Silben (s. Abb. 34), Morpheme, häufig vorkommende Buchstabenfolgen, häufige Wörter usw.
- Besonders wichtig: Für Kinder mit Schwierigkeiten im Leseerwerb bietet sich daher nicht unbedingt die Methode des Viellesens an. Es sollten vielfältige Übungsmöglichkeiten geboten werden, bei denen dieselben Wörter immer wieder erlesen werden.
Folgende methodische Ansätze lassen sich in diesem Zusammenhang nennen:
Wiederholtes Lesen von Texten: DDen Kindern werden altersangemessene Texte zur Verfügung gestellt, die so häufig gelesen werden müssen, bis ein vorab festgelegtes Erfolgskriterium (Anzahl von Wörtern pro Minute) erreicht ist. Besonders zielführend sind in diesem Zusammenhang Texte mit einem überschaubaren Wortschatz, der sich fortlaufend wiederholt. Schülerinnen und Schüler kann es so gelingen, orthographische Repräsentationen (in Schriftzeichen geschrieben) dieser Wörter in ihrem orthographischen Lexikon abzuspeichern, sodass sie in Zukunft als Ganzheiten verarbeitet werden können. Dies kann z. B. mit LeOn geübt werden (s. Kap. 3).
Hochfrequentes Lesen einzelner Wörter: Den Kindern wird entweder ein Sichtwortschatz vermittelt, der automatisiert benannt werden kann, oder es werden Maßnahmen angeboten, die die Dekodierfähigkeit im Allgemeinen verbessern sollen. Demzufolge lassen sich im Rahmen dieses Ansatzes mindestens zwei Herangehensweisen unterscheiden:
- wiederholtes Lesen einer begrenzten Anzahl an Wörtern (z. B. mit der Blitzschnellen Worterkennung) und
- die Konfrontation mit möglichst vielen unterschiedlichen Wörtern.
Blitzschnelle
WorterkennungArbeit mit häufig vorkommenden Buchstabenfolgen: Eine weitere Möglichkeit ist ein Training der ganzheitlichen Verarbeitung sublexikalischer Einheiten. Durch die wiederholte Auseinandersetzung mit besonders häufig vorkommenden Buchstabenfolgen der deutschen Schriftsprache (z.B. <iege>) sollen Kinder mit Schwierigkeiten bei der Automatisierung der Worterkennung dabei unterstützt werden, diese als Einheiten zu verarbeiten.
Eine weitere Anregung zur Auswahl von Wörtern bietet der Grundwortschatz NRW.
Buchstabenfolgen
BEISPIEL
Wer häufige Buchstabenfolgen kennt, kann sehr schnell verschiedene Wörter, die eine ähnliche Struktur haben, entziffern und verstehen. Ist ein Kind beispielsweise in der Lage, die Buchstabenfolge automatisiert zu benennen, wird es erfahrungsgemäß auch keine Schwierigkeiten haben, Wörter mit dieser Signalgruppe (liegen, Riege, siegen, Wiege …) automatisiert zu erkennen (Mayer, 2022a).
5.6 Wie kann eine intensive Unterstützung im Bereich des sinnentnehmenden Lesens gestaltet werden?
Beim Leseverstehen handelt es sich um ein komplexes Konstrukt. An ihm sind vor allem zwei Faktoren beteiligt: die Fähigkeit, gedruckte Wörter in Lautsprache umzuwandeln (= Worterkennung, s. Kap. 5.4 und Kap. 5.5) und das Sprachverstehen, also die Fähigkeit, gelesene Inhalte in lexikalischer und grammatischer Hinsicht zu entschlüsseln (Hoover & Gough, 1990).
Die Worterkennung stellt dabei die erste Hürde dar. Diese muss überwunden werden, um das Gelesene inhaltlich verstehen zu können. Ohne dass schriftsprachliches Material in Lautsprache umgewandelt werden kann, sind alle weiteren Bemühungen zur Sinnentnahme zum Scheitern verurteilt. Auch wenn die Worterkennung natürlich keine hinreichende Voraussetzung für das Leseverstehen darstellt, belegen zahlreiche Forschungsarbeiten, dass eine Verbesserung der Lesegeschwindigkeit mit einer Verbesserung des Leseverständnisses einhergeht. Dies geschieht auch dann, wenn es nicht die eigentliche Intention der Maßnahme war (Seuring & Spörer, 2010). Auf den Zusammenhang zwischen der Worterkennung und dem Leseverstehen wurde bereits in den Kapiteln 3.2 und 5.5 eingegangen.
Herausfordernde sprachliche Strukturen für Kinder mit Schwierigkeiten im Leseerwerb
- Passivsätze
- die Bedeutung der einleitenden Konjunktionen subordinierter Nebensätze (z. B. „obwohl“, „während“, „bevor“, „nachdem“, Relativpronomen)
- Konjunktiv
- grammatische Verbindungen zwischen Sätzen (Kohäsionsmittel) (z. B. „Wenn der Hund und die Katze im Garten sind, jagt sie ihn“)
- Präpositionen
- syntaktische Anordnungen, die nicht der normalen Reihenfolge der Satzglieder entsprechen (z. B. „Dem Opa schenkt der Enkel ein Buch zum Geburtstag.“)
Wie kann dies in der Praxis umgesetzt werden?
Wenn das Leseverstehen durch Probleme mit der Verarbeitung von sprachlichen Strukturen einhergeht, sollten diese immer wieder zum Thema von Unterstützungsmaßnahmen werden. In regelmäßigen Abständen kann eine bestimmte Struktur fokussiert und gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern erarbeitet werden. Beispielsweise könnte die Lehrkraft Sätze vorbereiten, die von den Kindern selbst oder mit Gegenständen als Rollenspiel gespielt werden müssen.
Sätze zum
AusagierenBEISPIEL
Passivsätze, die mit Puppen, Stofftieren oder Figuren nachgespielt werden sollen
Das Mädchen wird vom Hasen umarmt.
Der Hase wird vom Krokodil geschubst.
Das Krokodil wird vom Mädchen gestreichelt.
Der Hase wird vom Krokodil gejagt.
Das Krokodil wird vom Hasen gefüttert.
Es ist davon auszugehen, dass der Einfluss lexikalischer und grammatischer Fähigkeiten auf das Leseverstehen mit zunehmendem Alter der Schülerinnen und Schüler und steigender sprachlicher Komplexität der Texte zunimmt. Während die Lesetexte in den ersten beiden Jahrgangsstufen lexikalisch und grammatisch meist noch so einfach sind, dass sie auch von Schülerinnen und Schülern mit sprachlichen Beeinträchtigungen verstanden werden können, sind die Texte ab der dritten Klasse bereits so komplex, dass ihr Verstehen ein funktionierendes Sprachverstehen voraussetzt.
Allerdings stellen Worterkennung sowie erfolgreich ausgeprägte lexikalische und grammatische Fähigkeiten vor allem ein Verständnis auf Satzebene sicher. Insbesondere um komplexere Texte verstehen zu können, müssen sich Kinder aktiv mit einem Text auseinandersetzen können – sie müssen in der Lage sein, sprachliche Verbindungen (Kohäsionsmittel) richtig zu verstehen, um die Informationen aus den einzelnen Satzteilen und Sätzen miteinander zu verknüpfen und zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Sie müssen zwischen den Zeilen lesen, nicht explizit genannte Informationen ergänzen, Schlussfolgerungen ziehen sowie Hintergrundwissen und Weltwissen integrieren.
5.7 Wie kann LESE-FOKUSplus für die Unterstützung von Kindern mit Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens eingesetzt werden?
5.7.1 Was ist LESE-FOKUSplus?
Wie bereits in Kap. 3 erläutert, werden mit dem LESE-FOKUS Methoden und Materialien für alle Kinder und den gesamten Unterricht bereitgestellt. LESE-FOKUSplus ist darüber hinaus ein ergänzender Methodenpool für die besondere Unterstützung von Schülerinnen und Schülern der ersten bis vierten Klassenstufe mit Schwierigkeiten im Erwerb der Lesefähigkeiten. Der Fokus liegt hier auf dem Anfangsunterricht, aber der Methodenpool kann z. B. auch bei älteren Kindern mit anhaltenden Schwierigkeiten im Lesen eingesetzt werden. Sie können, je nach individuellen Voraussetzungen des einzelnen Kindes, einzelne oder mehrere Methoden aus LESE-FOKUSplus auswählen.
LESE-FOKUSplus ist eine Sammlung von Methoden mit dazugehörigen Materialien, welche Lehrkräfte bei der Gestaltung von Förderung und Unterricht unterstützt. Der Methodenpool einschließlich der Materialien ist kostenfrei über das Portal stift-deutschunterricht.de herunterladbar. Die Methoden und Materialien können sowohl in ausgedruckter wie auch in digitaler Form als PDF-Dokumente genutzt werden.
5.7.2 Wie ist LESE-FOKUSplus aufgebaut?
Der Aufbau von LESE-FOKUSplus orientiert sich an den Unterstützungsbereichen, um Schülerinnen und Schüler mit besonderem Bedarf im Leseerwerb zu trainieren. Dies beinhaltet unter anderem Analyse- oder Automatisierungsverfahren, aber auch Lautlese- und Vielleseverfahren für die besondere Unterstützung des Leseerwerbs. Ziel ist es, durch die Automatisierung der einzelnen Lesefähigkeiten den Kindern das flüssige und verstehende Lesen zu ermöglichen (s. Abb. 35).
5.7.3 Die Methoden- und Materialsammlung
In jeder Kategorie befindet sich eine große Bandbreite an Fördermethoden, die sich in unterschiedlichen Sozialformen, Klassenstufen und Zeitrahmen einsetzen lassen. Jede Methodenkarte besteht aus einer Vorder- und einer Rückseite. Vorne wird die Methode überblicksartig dargestellt und es werden notwendige Materialien aufgelistet oder zusätzlich durch einen QR-Code verlinkt. Auf der Rückseite ist eine Beschreibung der Methode inklusive der Förderziele, Differenzierungsmöglichkeiten, der möglichen Sozialformen und Anmerkungen für den Einsatz im Unterricht. Dort werden beispielsweise Ansätze für den Einsatz im mehrsprachigen Kontext vorgeschlagen.
Lebendes Memory
5.7.4 Methoden zur Unterstützung für Kinder mit Herausforderungen im Leseerwerb
LESE-FOKUSplus ist – parallel zum LESE-FOKUS (s. Kap. 3) – eine umfangreiche Methodensammlung, mit der das Lesen besonders gefördert werden kann. Im Folgenden werden einige Beispiele für die Förderung der Vorläuferfähigkeiten, der Graphem-Phonem-Korrespondenz und des phonologischen Rekodierens herausgegriffen.
Buchstabenwürfel
Vorläuferfähigkeiten
Mit der Methode des Lebenden Memorys kann die phonologische Bewusstheit als mögliche Vorläuferfähigkeit gefördert werden. Das ist besonders für Kinder mit Schwierigkeiten im Leseerwerb von zentraler Bedeutung (s. Abb. 36a/b).
5.7.5 Graphem-Phonem-Korrespondenz
Die Methode des Buchstabenwürfels kann für die Förderung der Graphem-Phonem-Korrespondenz eingesetzt werden, wobei zusätzlich auch der Wortabruf und der Zugriff auf das mentale Lexikon trainiert werden können (s. Abb. 37a/b).
5.7.6 Phonologisches Rekodieren
Die Methode zum Silben schwingen kann bei Kindern mit besonderem Unterstützungsbedarf ergänzend einsetzt werden, um das phonologische Rekodieren und damit die Leseflüssigkeit zu fördern (s. Abb. 38a/b). Hierbei bieten sich verschiedene Differenzierungsmöglichkeiten an, um die Methode an den Leistungsstand des Kindes anzupassen.
Silben schwingen
5.7.7 In aller Kürze: Warum und wie LESE-FOKUSplus einsetzen?
LESE-FOKUSplus fördert Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf über den Lehrplan hinaus.
Durch den Methodenpool LESE-FOKUSplus können Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf gefördert werden. Die zusätzlichen Kategorien ermöglichen ein Training der grundlegenden Fähigkeiten für das Erlernen des Lesens.
LESE-FOKUSplus bietet eine strukturierte und den Phasen des Schriftspracherwerbs entsprechende Unterstützung.
Kinder mit Herausforderungen im Schriftspracherwerb können mit den Methoden zusätzlich zum Regelunterricht unterstützt werden.
LESE-FOKUSplus ist vielfältig für eine hybride Unterrichtsgestaltung einsetzbar.
Die Methoden und Materialien aus LESE-FOKUS-plus können sowohl analog in Papierform als auch digital verwendet werden und ermöglichen dadurch eine hybride Unterrichtsgestaltung.
LESE-FOKUSplus ermöglicht eine breite Methodenvielfalt.
Durch die Vielzahl an unterschiedlichen Methoden und Materialien kann der Leseunterricht abwechslungsreich und ansprechend gestaltet werden.
KURZ & KNAPP
Wie können Kinder mit Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens gezielt unterstützt werden?
- Kinder mit Schwierigkeiten im Leseerwerb benötigen so früh wie möglich intensive, fokussierte und systematische unterrichtliche Unterstützungsmaßnahmen.
- Die phonologische Bewusstheit kann einen wichtigen Förderfokus für Kinder mit Unterstützungsbedarf darstellen.
- Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf sind in der Benennung von Buchstaben langsamer als Kinder mit unauffälligen schriftsprachlichen Leistungen. In diesem Fall ist die Förderung der Graphem-Phonem-Korrespondenz sinnvoll.
- Das phonologische Rekodieren sollte bei Kindern mit Schwierigkeiten im Lesenlernen gezielt gefördert werden. Grundlage dafür ist die Automatisierung der Worterkennung.
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