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6. Wie kann schulische Lesekultur zum Lesen animieren?
Der Erwerb der Lesekompetenz ist ein umfangreicher Prozess, der begleitet werden muss. Dabei spielen nicht nur konkrete Förder- und Unterstützungsmaßnahmen eine wichtige Rolle, sondern auch die gesamtschulische Struktur und die Realisierung leseanimierender Umgebungen. In diesem Kapitel werden deshalb folgende Fragen beantwortet:
- Wie kann schulische Lesekultur Raum für Leseerfahrungen schaffen? (s. Kap. 6.1)
- Wie kann Lesemotivation durch diversitätssensibles Lesen unterstützt werden und welche Herausforderungen ergeben sich? (s. Kap. 6.2)
- Wie kann das Vorlesen – digital und analog – in der Schule etabliert werden? (s. Kap. 6.3)
- Welche Rolle spielen Lesevorbilder und Identifikationsfiguren im schulischen und außerschulischen Kontext für die Lesekompetenz der Kinder? (s. Kap. 6.4)
6.1 Raum für Lesekultur und Leseerfahrungen schaffen
Die schulische Lesekultur ist ein wichtiger Einflussfaktor auf die Entwicklung der Lesekompetenz bei Kindern. Dabei geht es zum einen darum, Kindern die notwendigen Lesefähigkeiten nahezubringen (s. Kap. 3) und bei Schwierigkeiten individualisierte Unterstützung zu leisten (s. Kap. 5). Zum anderen sind auch die weiteren Aspekte der Lesekompetenz auf subjektiver und sozialer Ebene (vgl. Mehrebenenmodell Rosebrock & Nix 2020, Abb. 1) einzubeziehen. Den Zugang zu Literatur zu ermöglichen und den Austausch über Gelesenes zu etablieren, gehört ebenso wie das Vorlesen zu einer schulischen Lesekultur. Diese sollte im Rahmen der schulprogrammatischen Arbeit verankert werden. Im Folgenden finden sich Anregungen dazu, welche Aspekte hier berücksichtigt werden sollten.
Literaturdidaktische
AnsätzeWas sollte zur Lesekultur einer Schule gehören?
- Lesefähigkeiten vermitteln
- verschiedene Textformen behandeln
- Ziel und Genre von Texten reflektieren
- individuelles Vorwissen ansprechen
- Leseerfahrungen ermöglichen
- herausfordernde Texte lesen
- Anschlusskommunikation über das Gelesene anregen
- Reflexion des eigenen Leseprozesses ermöglichen
- Bezugspersonen sowie schulinterne und -externe Personen einbinden
- eseanimierende Umgebungen anbieten, z. B. durch Buchvorstellungen, Buchausstellungen, Autorinnen- und Autorenlesungen und Projektarbeiten zu Büchern
- die Entwicklung eigener Haltungen zum Gelesenen fördern
- digitale und analoge Texte zur Verfügung stellen
- Lesevorbilder ausbauen
- Leserituale bzw. regelmäßige Lesezeiten bereitstellen (z. B. als Leseband)
- Interessen der Kinder ansprechen (z. B. durch Auswahl von Texten und Büchern)
- …
Leseerfahrungen und die didaktische Auseinandersetzung mit Literatur sind wichtige Teile von Lesekompetenz und Lesekultur in der Grundschule. Auch in diesem jungen Alter können Kinder das Lesen von Büchern oder Geschichten als prägendes Ereignis erleben (Abraham & Knopf, 2021; Ritter, 2019). Der Lehrplan Deutsch für die Primarstufe in Nordrhein-Westfalen (Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2021, S. 26) formuliert deutliche Anforderungen an das literarische Lesen für alle Schulstufen in der Grundschule: „Schülerinnen und Schüler identifizieren“ …
Digitale Bücher
erstellenWas sollte zur Lesekultur einer Schule gehören?
- „…literarische Texte (u.a. Bilderbuch, Liedtext, Lyrik) als ästhetische Textform mit ihren sprachlichen und klanglichen Besonderheiten und beschreiben ihre Wirkung“.
- „…unterscheiden verschiedene literarische Texte (u.a. Erzähltexte, lyrische und dialogische Texte, Filme, Hörspiele)“.
Im Unterricht soll deshalb beispielsweise Einsicht in Superstrukturen von Texten gegeben werden – z. B. Besonderheiten beim Märchen. Des Weiteren soll der Unterschied zwischen verschiedenen Textgattungen reflektiert werden. Erzählende bzw. fiktionale Texte weisen andere sprachliche Merkmale auf als Sachtexte (Abraham & Knopf, 2021; Hesse & Winkler, 2022; Spinner, 2006b). Bei Erzähltexten kann sich beispielsweise die Wort- und Satzlänge deutlich von denen eines Sachtextes unterscheiden. Auch die sprachlichen Anforderungen (Stichwort ‚Bildungs- und Fachsprache‘) sind bei Sachtexten häufig andere als bei literarischen Texten. Hierdurch lassen sich Texte auf verschiedenen Schwierigkeitsebenen einordnen.
Wie kann dies umgesetzt werden?
Durch eine handlungs- und produktionsorientierte literaturdidaktische Herangehensweise können Kinder in allen Jahrgangsstufen individuell in ihren Leseerfahrungen unterstützt werden (Bredel & Pieper, 2021; Hesse & Winkler, 2022; Kurwinkel & Schmerheim, 2020; Philipp, 2015).
Dazu gehört es z. B.:
- Literatur für Kinder greifbar zu machen;
- das Interesse von Kindern bei der Auswahl von Literatur zu berücksichtigen;
- Inhalte von Texten anderweitig produktiv zu nutzen, z. B. durch Rollenspiele, Lesetagebücher, visuelle Gestaltungen oder Nacherzählungen;
- Projektwochen zu Lesetexten zu gestalten;
- …
Zur Auseinandersetzung mit verschiedenen Texten sollten auch unterschiedliche analoge und digitale Formate genutzt werden. Multimodale Texte, also Texte, die in digitaler Form vorliegen und verschiedene Modi (Bild, Video, Hyperlinks usw.) aufweisen, sollten ebenfalls eingeführt und zur Verfügung gestellt werden, um auf die Besonderheiten der Textstrukturen eingehen zu können.
Aber auch bei analogen Büchern gibt es häufig Möglichkeiten, die Leseerfahrung zu erweitern. Zusätzlich zu bereits vorliegenden analogen oder digitalen Bilderbüchern können auch Programme dazu genutzt werden, digitale Bilderbücher selbst zu erstellen.
Weitere Möglichkeiten bestehen beispielsweise darin, Geschichten nachzuerzählen oder (analog sowie digital) weiterzuschreiben. Schülerinnen und Schüler können Erzählungen aber auch vorlesen, als Theaterstück inszenieren sowie als Bilder, Fotos, Mindmaps oder Videos verarbeiten (Krug & Nix, 2017; Ohle-Peters et al., 2021). Konkrete didaktische Umsetzungsstrategien zum Ermöglichen von Leseerfahrungen sind beispielsweise Bookslam, digitale Buchvorstellungen, Lesespaziergang und Mux-Books. Diese und viele weitere Ideen, Materialien und Methoden finden sich im LESE-FOKUS (s. Kap. 3).
Dabei sollte Schule die Interessen der Kinder im Blick behalten und sowohl erzählende als auch Sachtexte und andere Formate (z. B. Comics, Bilderbücher, Zeitschriften etc.) zur Verfügung stellen (s. Abb. 39). Dabei können auch digitale Apps zum Lesen und Vorlesen genutzt werden.
Besonders für die Auseinandersetzung mit literarischen Texten ist das literarische Gespräch eine zentrale und strukturierte Möglichkeit, mit Kindern in den Austausch zu kommen. Fragen und Meinungen zu Texten aller Art können in diesem Kontext besprochen werden. Die strukturierte Herangehensweise an den Austausch über Literarisches ist eine wichtige Methode, um Texte für Kinder greifbar zu machen (s. Abb. 39) (Granzow, 2020; Heins & Jantzen, 2019; Ohlsen, 2017).
Übersicht:
Tools & AppsBEISPIEL
Die Auseinandersetzung mit Gedichten medial variierend gestalten
Ein Gedicht kann (vor-)gelesen, auswendig vorgetragen oder nachgespielt werden. Es können Reflexionsgespräche über das Gedicht geführt und eigene Gedichte geschrieben werden.
6.2 Lesemotivation gezielt für alle Kinder steigern
Die Lesemotivation wird mittlerweile als eigene Facette der Lesekompetenz, aber auch des didaktischen Planungsrahmens im Unterricht betrachtet (Davis et al., 2020; Rosebrock & Nix, 2020; Spinner, 2006b). Es wird davon ausgegangen, dass motivierte Kinder häufiger lesen und das Gelesene tiefergehend verarbeiten (s. Kap. 1). Motivation kann intrinsisch durch die eigenen Interessen und Ziele oder extrinsisch durch äußere Faktoren wie Belohnungen hervorgerufen werden (Lenhard, 2019). Häufig mischen sich beide Motivationsformen im Kontext der schulischen Bildung.
Literarisches
GesprächDie Lesemotivation umfasst aber nicht nur die Freude am geschriebenen Wort, sondern auch persönliche Ziele, Werte und Überzeugungen zu Texten und deren Inhalten (Mentel et al., 2022). Kinder, die das Lesen als etwas Sinnhaftes wahrnehmen, also einen Bezug zu sich selbst und ihrer eigenen Lebenswelt herstellen können, lesen aktiver (Goy et al., 2017). Die Kinder entwickeln ein positives Leseselbstkonzept (s. Kap. 1) als Leserin bzw. als Leser, wozu die Lesemotivation stark beiträgt (s. Abb. 40 & 41).
Lesemotivation
Es kann zunächst notwendig sein, die Lesemotivation der Schülerinnen und Schüler zu eruieren. Dies kann je nach Klassenstufe unterschiedlich aussehen. So können die Lernausgangslage und das eigene Leseverhalten bzw. der Zugang zu Büchern und digitalen Medien (z. B. im häuslichen Umfeld) ermittelt werden. Bei Erstleserinnen und Erstlesern können eher die eigenen Erfahrungen mit Vorlesen, Büchern und Geschichten erfragt werden. Bei fortgeschrittenen bzw. autonomen Leserinnen und Lesern kann hingegen das eigene Interesse (z. B. an bestimmten Themen) oder auch die Zeit erfasst werden, welche die Kinder mit Büchern verbringen.
Wie können leseanimierende Umgebungen in der Schule geschaffen werden?
Die grundlegende didaktische Gestaltung eines leseanimierenden Unterrichts kann z. B. folgendermaßen aussehen (s. Abb. 42) (Krug & Nix, 2017):
- Bücherkisten/Lesekisten gestalten, Klassenbücherei bzw. die Schulbücherei bekannt machen (s. Abb. 43): Zugang zu Literatur und Texten ermöglichen (z. B. durch LeOn, s. Kap. 3.4); weitere Methoden finden sich auch im LESE-FOKUS;
- ein lesefreundliches Klassenzimmer gestalten: eine Leseecke oder eine Klassenbibliothek einrichten, Bücher im Klassenstimmer ausstellen, eine digitale Lesekiste bereitstellen usw.;
- Hörbücher zur Verfügung stellen: gerade Kinder mit Schwierigkeiten im Leseerwerb finden möglicherweise einen besseren Zugang über das Hören von Geschichten;
- Lesetagebücher einsetzen: den Leseprozess von Kindern begleiten und reflektieren;
- eigene Lesezeichen herstellen;
- Büchereibesuch planen;
- Buchvorstellungen organisieren: Die Schülerinnen und Schüler können sich untereinander Bücher vorstellen, aber auch die Lehrkraft kann als Vorbild Bücher mitbringen;
- Bücher-Tausch: Die Schülerinnen und Schüler leihen sich untereinander Bücher aus;
- einen Lesepass zur extrinsischen Motivation einführen:
- Vorlesen, z. B. in der Frühstückspause oder im Unterricht;
- eine Projektwoche zu einem bestimmten Buch durchführen;
- „Tag des Vorlesens“ oder „Tag des Buches“ gestalten;
- das eigene laute Lesen aufnehmen mittels digitaler Tools (z. B. LeOn, s. Kap. 3.4), um Fortschritte sichtbar zu machen.
Zentral ist eine vielfältige Verwendung von Methoden und Ansätzen, um die Lesemotivation bei Kindern zu steigern. Auch die Zusammenarbeit mit anderen Fächern (Kunst, aber auch Mathematik, Sport oder Sachunterricht) kann dabei helfen, die unterschiedlichen Bedürfnisse und Interessen der Kinder aufzugreifen (Garbe, 2022; Zarić et al., 2020).
Die Förderung und die allgemeine Entwicklung der Lesemotivation können durch ergänzende Maßnahmen und Personengruppen weitergehend unterstützt werden. Initiativen wie der „Bundesweite Vorlesetag“ oder Programme verschiedener Stiftungen bieten immer wieder lohnende Inspiration für die Gestaltung leseanimierender Umgebungen und für weitere unterstützende Lesefördermaßnahmen (Gölitzer; 2021; Gold, 2018).
Gendersensibles
LesenFÜR DEN UNTERRICHT
Leseanimierender Unterricht: ein didaktischer Überblick
Vielleseverfahren: Lesen zum regelmäßigen Ritual werden lassen, sodass Kinder mit möglichst vielen Texten und Textformaten in Berührung kommen können
Lesegewohnheiten: gemeinsam reflektieren, wieso viel oder wenig gelesen wird, damit die Kinder von anderen lernen und sich inspirieren lassen können
Textsorten und Formate: variieren zwischen analogen und digitalen Texten, Hörbüchern und Bildgeschichten oder Comics, um unterschiedlichen Interessen zu entsprechen
Aktuelle Kinder- und Jugendbuchliteratur: als Lehrkraft das Angebot kennen und auf dem aktuellen Stand bleiben, um eine Auswahl treffen zu können
Leseaufgaben: individualisierte Aufgaben stellen (z. B. unterschiedliche Textlänge oder -komplexität)
Feedback geben: regelmäßig gemeinsam über die eigenen Fortschritte und Bedarfe sprechen
Literarische Gespräche: gemeinsam und strukturiert über Texte sprechen
6.2.1 Lesen für alle in den Blick nehmen – gendersensibles Lesen
Gendersensibles Lesen bezieht sich auf eine Lesekompetenz, die darauf abzielt, Geschlechterstereotype und -vielfalt in Texten zu erkennen und zu berücksichtigen. Es geht darum, bewusst auf die Darstellung diverser Charaktere und Rollenbilder zu achten, um eine inklusive und vielfältige Lesekultur zu fördern. Dabei sollten immer auch die spezifischen Interessen der Kinder in einer Klasse berücksichtigt werden. Gendersensibilität ist dabei nur ein hier exemplarisch ausgewählter Teilaspekt einer grundsätzlich diversitätssensiblen Lesekultur, in der selbstverständlich auch andere Diversitätsdimensionen, z. B. Kultur, Behinderung und sexuelle Identität repräsentiert sein sollten. Nur so kann ein Lesen für alle umgesetzt werden (Brendel-Perpina et al., 2020; Lesperance et al., 2022). Der gemeinsame Austausch und die Reflexion über Texte sollten dabei ebenfalls im Vordergrund stehen (s. Abb. 44).
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, diversitätssensibles Lesen in der Grundschule umzusetzen, z. B. die Verwendung geschlechtsneutraler Pronomen, die Auswahl von Büchern mit diversen Charakteren und Rollenbildern oder das Einbeziehen von Diskursen über Geschlechterstereotype und -vielfalt in den Unterricht (Kubandt, 2019).
Beispiele für gendersensible bzw. diversitätssensible Texte und Materialien sind:
- Bilderbücher, die verschiedene Geschlechter und Familienkonstellationen darstellen;
- Lehrmaterialien, die die Beiträge von Frauen und Männern in verschiedenen Bereichen der Geschichte und Wissenschaft hervorheben (z. B. Erfinderinnen und Erfinder, Autorinnen und Autoren, berühmte Persönlichkeiten etc.);
- Bücher und Geschichten, die keine stereotypen Rollenbilder fördern;
- Arbeitsblätter und Übungen, die geschlechtsneutrale Beispiele und Aufgabenstellungen verwenden, um eine diversitätssensible Lernumgebung zu schaffen;
- kultursensibles Lesen, bei dem Texte in mehreren Sprachen thematisiert und verschiedene kulturelle Realitäten in den gelesenen Büchern abgebildet werden;
- Geschichten mit Repräsentationen einer breiten Vielfalt, z. B. in der Familienzusammensetzung, kulturell oder hinsichtlich des sozialen Status.
Kinder können sich beispielsweise gegenseitig ihre Lieblingstexte, Bücher oder Geschichten vorstellen, um so einen umfassenden Einblick in verschiedene Textgattungen, Genres und Themen zu erhalten. Dabei sollte eine möglichst breite Vielfalt ausgewählt werden, um alle Kinder anzusprechen. Im Sinne eines handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts können die Kinder auch eigene Erfahrungen und ihre eigene Lebensrealität einbauen (Kepser & Abraham, 2016; Haas, 1997). Weitere Hinweise finden sich im verlinkten Dokument.
Darüber hinaus sollten möglichst vielfältige Vorbilder für das Lesen gewählt werden, um allen Kindern mögliche Identifikationsfiguren zu bieten (s. Kap. 6.3).
6.2.2 Angebote bei niedriger Lesemotivation
Eine Lösung zum Umgang mit niedriger bzw. fehlender Lesemotivation ist schwer zu finden, so Rosebrock & Nix (2020). Es geht zunächst darum, Interesse zu wecken und die Kinder sukzessive an das Lesen von Texten, Büchern und digitalen Medien heranzuführen. Das Selbstkonzept als „Nichtleserin“ oder „Nichtleser“ kann sehr stark ausgeprägt sein, weshalb es besonders bei diesen Schülerinnen und Schülern konkreter und langfristiger Ansätze bedarf. Dabei spielen auch die Peers, das familiäre und häusliche Umfeld sowie Vorerfahrungen im Kontext des Lesens eine zentrale Rolle.
Hinweise zur Leseanimation im Unterricht
Insbesondere Schülerinnen und Schüler mit Schwierigkeiten im Erwerb der Lesekompetenz müssen stärker in den Fokus rücken, wenn es darum geht, zum Lesen zu animieren (s. Kap. 5). Wenn ein Kind Schwierigkeiten beim Dekodieren der einzelnen Wörter hat, sinkt seine Motivation meist mit steigender Länge eines Textes. Leseanimierende Verfahren erreichen daher bei Kindern mit Schwierigkeiten im flüssigen und/oder sinnentnehmendem Lesen häufig nicht die erwünschte Wirkung (Krug & Nix, 2017).
Methode:
Reziprokes LesenNichtsdestotrotz bedarf es konkreter Strategien und eines breiten Angebotes, um die Lesemotivation bei allen Kindern zu stärken (Rosebrock & Nix, 2020). Wichtig ist auch, dabei drei Aspekte motivationaler Förderung im Blick zu behalten: Autonomie, soziale Eingebundenheit und Kompetenz (Krug & Nix, 2017) (s. Abb. 40).
Die Lesemotivation hängt zum einen also eng mit den Vorerfahrungen des jeweiligen Kindes zusammen – dem Umgang mit Büchern im häuslichen Umfeld oder in der Kita –, zum anderen aber auch mit den individuellen Ausprägungen der Fähigkeiten der Lesekompetenz. Das Vorlesen durch andere Personen kann hier eine wichtige und sinnvolle Ergänzung über die gesamte Grundschulzeit hinweg sein.
6.3 Vorlesen als Teil der Lesekultur etablieren
Das Vorlesen von Büchern und Texten stellt nicht nur im Elementarbereich, sondern auch in der Grundschule einen wichtigen Einflussfaktor für die Entwicklung der Lesekompetenz dar. Vorlesen ist ein Ritual, das sowohl jüngere als auch ältere Schülerinnen und Schüler lieben, sowie eine wichtige Möglichkeit, Zugang zu Büchern und Geschichten zu schaffen (Hopp, 2020; Rösch, 2014).
Kriterien
(Bilder-) BuchauswahlKinder …
- können ihre allgemeine Sprachentwicklung verbessern, da das Vorlesen die Sprachkenntnisse und den Wortschatz erweitert. Sie hören neue Wörter oder Formulierungen, lernen Strukturen und Rhythmus der Sprache. Sie entwickeln auch ein besseres Verständnis von Grammatik und Syntax.
- werden angeregt, über das Vorgelesene nachzudenken. Das hilft bei der Entwicklung der Vorstellungskraft. Vorlesen kann als Anlass dazu genommen werden, kreativ zu denken, indem beispielsweise Fragen zur Geschichte beantwortet werden.
- werden in ihrer Konzentrationsfähigkeit und Gedächtnisleistung gefördert. Sie müssen sich das Gehörte merken, um die Handlung zu verstehen.
- entwickeln ein erstes Verständnis von Texten und davon, wie diese aufgebaut sind.
- werden motiviert, selbst Geschichten zu lesen und können so eine positive Einstellung zum Lesen entwickeln.
- Der Austausch und die Gestaltung des Vorlesens über Texte können z. B. durch den Einsatz des Reziproken Lesens oder des Vorlesetheaters realisiert werden. Das reziproke Lesen ist auch in mehrsprachigen Kontexten gut anwendbar. Weitere Hinweise finden sich bei biss-transfer.
- Wichtig ist die Auswahl der (Bilder-)Bücher. Auch hier sollte eine große Bandbreite angeboten werden. Einige Kriterien bzw. Reflexionsfragen sind im verlinkten Dokument zusammengefasst.
6.3.1 Vorlesen mit digitalen Bilderbüchern
Digitale Bilderbücher bieten ein großes Potenzial für den Einsatz im Unterricht, um eine gemeinsame Lernsituation zu schaffen (Miosga et al., 2021). Die Animationen in der digitalen Literatur unterstützen dabei den förderlichen Charakter. Der Fokus sollte hierbei auf einem interaktiven sowie kommunikativen Austausch zwischen der Lehrkraft und den Schülerinnen und Schülern liegen.
Wissenschaftliche Studien zeigen, dass sich digitale Bilderbuchformate positiv auf verschiedene sprachliche Aspekte wie die phonologische Bewusstheit, den Wortschatz, das Textverständnis und die Freude an Literatur auswirken können (Bus et al., 2020; Korat & Falk, 2019; Korat & Shamir, 2007; Neumann & Neumann, 2014). Es sind allerdings auch einige Stolpersteine zu beachten, um Ablenkungen durch die Apps zu vermeiden (Miosga et al., 2021). Beispielsweise ist es möglich, dass das Geschichtenverständnis durch die übermäßige Verwendung von Animationen erschwert wird (Parish-Morris et al., 2013), sodass die verwendeten Apps sorgsam ausgewählt werden sollten.
Lesen in mehrsprachigen Kontexten
Es gibt mittlerweile auch Programme bzw. Apps, die das Vorlesen in mehreren Sprachen ermöglichen. Dort sind Texte in verschiedenen Sprachen eingesprochen, sodass gerade auch mehrsprachige Kinder selbstständig mit dem digitalen Endgerät Texte in ihren Herkunftssprachen sowie auf Deutsch vorgelesen bekommen können.
Auch Altersunterschiede sollten berücksichtigt werden. So können z. B. ältere und kompetente Leserinnen und Leser den jüngeren Klassen in Vorlesepausen vorlesen. Viele Ansätze der Peer-Didaktik lassen sich hier nicht nur bezüglich des Alters eines Vorlesetandems anwenden, sondern Variationen sind z. B. auch zur Unterstützung einsprachiger und mehrsprachiger Kinder oder für lesekompetente Kinder und solche mit Herausforderungen im Leseerwerb möglich (Lüdtke et al., 2023).
Des Weiteren könnte der Kreis der vorlesenden Personen auch innerhalb der Schule erweitert werden: um Fachlehrkräfte, Sozialpädagoginnen und -pädagogen, Erzieherinnen und Erzieher, die Schulleitung usw. Das (Vor-)Lesen soll zur schulischen Kultur werden, sodass den Schülerinnen und Schülern möglichst vielfältige Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit Büchern und Schriftsprache geboten werden. Zum Lesenlernen braucht es nicht nur ein Buch und kognitive Fähigkeiten, sondern ein Netzwerk an Personen und Einrichtungen, die besonders auch bei Herausforderungen oder Schwierigkeiten unterstützen und motivieren können.
6.4 Lesevorbilder und Identifikationsfiguren anbieten
Lesevorbider sind für Kinder besonders wichtig, da sie den Kindern helfen, ihre Lesevorlieben und -gewohnheiten zu entdecken und zu entwickeln. Eltern, Lehrkräfte, Bezugspersonen, aber auch Peers können als Lesevorbilder dienen, indem sie Kindern vorlesen, sie ermutigen, selbst zu lesen, und ihnen eine positive Einstellung zum Lesen vermitteln (s. Abb. 45).
6.4.1 Wie können Kinder von ihren Peers im Leseerwerb profitieren?
Die gegenseitige Unterstützung durch Peers (meist gleichaltrige Personen, die sich in einer ähnlichen Entwicklungsphase befinden) ist ein wichtiger Faktor, der großes Potenzial für einzelne Schülerinnen und Schüler bieten kann.
Die Schülerinnen und Schüler befinden sich im Leseerwerbsprozess immer wieder in wechselnden Kontexten und erleben wechselnde Voraussetzungen: Lesen in der Schule, Umgang mit Schriftsprache in der Familie, Relevanz von Büchern im Freundeskreis usw. Die Komplexität des Sprach- und damit auch des Leseentwicklungskontextes ist für alle Kinder eine ähnliche Entwicklungsherausforderung, die gemeinsam bewältigt werden kann (Lüdtke et al., 2023).
Die Möglichkeit, mit anderen Schülerinnen und Schülern, also Peers, zusammen das Lesenlernen zu gestalten, bietet viele Chancen. Peers können als emotionale Ressource für sprachliche Lernprozesse genutzt werden. Peer-Interaktionen sind besonders wertvoll und nicht selten der Höhepunkt des Tages von Kindern im Schulalltag. Peer-Kontexte motivieren Kinder, sich kommunikativ-sprachlich weiterzuentwickeln, um am Austausch teilhaben zu können. Das Gleiche wurde auch für den Erwerb schriftsprachlicher Kompetenzen beobachtet (Lüdtke et al., 2023).
- Gemeinsames Lautlesen (z. B. in Lautlesetandems) verbessert die Leseflüssigkeit und damit das Leseverstehen.
- Die eigene Lesemotivation wird gesteigert, wenn andere auch lesen.
- Die Schülerinnen und Schüler können sich über ihre jeweiligen Lesestrategien austauschen.
- Es können Lesevorbilder in der eigenen Klasse oder in höheren Klassenstufen gefunden werden – z. B. im Rahmen des Lautlesetandems.
Diese verschiedenen Ideen können ausgetauscht und kombiniert werden. Die Lehrkraft ist eine wichtige Bezugsperson, jedoch können auch Eltern, Geschwister, Peers, Großeltern oder andere Bezugspersonen eingebunden werden. Wünschenswert ist hier eine ausgewogene Verteilung der Geschlechter. Eine Möglichkeit besteht z. B. darin, dass eine besondere Vorlesezeit für das Vorlesen durch männliche Personen reserviert wird, um allen Kindern mögliche Identifikationspersonen anzubieten.
6.4.2 Wie können das häusliche Umfeld bzw. die Eltern in die Leseförderung eingebunden werden?
Auch die Eltern bzw. das häusliche Umfeld sind ein wichtiger Einflussfaktor im Leseerwerb sowie in der Leseförderung von Kindern. Inwiefern Mütter und Väter selbst einen Bezug zur Schriftsprache haben und es eine Lesekultur im häuslichen, aber auch im generellen privaten Umfeld des Kindes gibt, spielt eine entscheidende Rolle für die Entwicklung zur autonomen Leserin bzw. zum autonomen Leser. Die weitere Familie und enge Bezugspersonen sind ebenfalls Lesevorbilder für das Kind.
Tipps und Programme für die Elternarbeit
Eltern können gestärkt werden, indem ihnen konkrete Unterstützungsmaßnahmen auf verschiedenen Wegen nahegebracht werden. Beispielsweise können ihnen Fördermethoden für die verschiedenen Ebenen des Leselernprozesses an die Hand gegeben werden, sodass auch zuhause begleitet werden kann.
Eltern können ihre Kinder im häuslichen Umfeld durch eine leseförderliche Umgebung, also z. B. die Bereitstellung analoger und digitaler Bücher sowie sonstiger Texte unterstützen. Hierfür sollten sie – oder auch weitere Bezugspersonen der Schülerinnen und Schüler – sensibilisiert werden.
Auch für Kinder mit einem mehrsprachigen Hintergrund sind die Eltern bzw. ist das häusliche Umfeld ein wichtiger Faktor hinsichtlich einer Vorbildfunktion. Es ist hilfreich, bei den Eltern ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass auch das Vorlesen in der Herkunftssprache von elementarer Bedeutung ist und einen positiven Einfluss auf die Entwicklung der Lesekompetenz hat.
Eine allgemeine Sensibilisierung für das Thema Lesen und Vorlesen sollte begleitend zum Unterricht etabliert werden. Dabei können verschiedene Programme oder weitere Initiativen unterstützen.
KURZ & KNAPP
Wie kann Lesekultur etabliert werden?
- Möglichst viele Dimensionen einer diversitätssensiblen Leseförderung werden berücksichtigt.
- Allen Kindern wird ein Zugang zu Büchern und Texten in analoger und digitaler Form ermöglicht.
- Es werden Möglichkeiten geschaffen, vielfältige Lesevorbilder – auch in verschiedenen Herkunftssprachen – zu finden.
- Die schulische Lesekultur sollte im Schulprogramm verankert sein.
- Es werden regelmäßig Austausch- und Reflexionsräume für die Kinder geschaffen.
- Die Kinder unterstützen sich in ihrer Peer-Funktion gegenseitig im Leselernprozess.
- Die Eltern sollten eingebunden werden, um auch im häuslichen Umfeld das Lesen zu etablieren sowie den Leselernprozess der Kinder zu unterstützen.
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