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2. Welche Erwerbsfaktoren beeinflussen das Lesenlernen im Anfangsunterricht?
Aufgabe des Leseunterrichts ist es, Kinder dabei zu unterstützen, sich zu kompetenten und autonomen Leserinnen und Lesern zu entwickeln. Kinder sollen in die Lage versetzt werden, analoge und digitale Texte verschiedener Formen und Gattungen sowie Geschichten und Bücher eigenständig und verstehend zu lesen und reflektiert für sich zu nutzen. Deutschunterricht, aber auch fachübergreifender Unterricht sollte dabei an die altersspezifischen Interessen von Kindern anknüpfen und ihnen gleichzeitig ermöglichen, diese weiter auszubauen oder neue zu entdecken.
Für den Leseerwerb sind verschiedene Erwerbsbedingungen von zentraler Bedeutung, die Kinder bereits vor Schulbeginn geprägt haben. Da diese nicht nur bedeutsame Vorbedingungen für den Leseunterricht darstellen, sondern auch in der didaktischen Gestaltung berücksichtigt werden müssen, stellt sich dieses Kapitel der Frage, welche Faktoren hier wirksam sind:
- Welchen Einfluss hat der Schriftspracherwerb auf das Lesenlernen im Anfangsunterricht? (s. Kap. 2.1)
- Welche Rolle spielen die Vorläuferfähigkeiten für den Leseerwerb? (s. Kap 2.2)
2.1 Einfluss des Schriftspracherwerbs auf das Lesenlernen
In der Forschung haben sich mit den Jahren verschiedene Ansätze entwickelt, die den Schriftspracherwerb bei Kindern erklären2. Der Leseerwerb ist ein Teil des Schriftspracherwerbs, da Kinder lernen müssen, Buchstaben und Laute zu erkennen, Wörter zu identifizieren und ihre Bedeutung zu kennen. Kinder wenden beim Erwerb zudem unterschiedliche Strategien an, die den Prozess zu verschiedenen Zeitpunkten leiten. Die Strategien im Schriftspracherwerb haben einen großen Einfluss auf das Lesenlernen der Kinder.
Grundlegend wird bereits seit Längerem in den meisten Modellen zwischen folgenden Phasen bzw. Strategien unterschieden (Ehri, 1992; Frith, 1986; Günther & Brügelmann, 1986; Kirschhock, 2004; Klicpera et al., 2003; Mayer, 2022b; Scheerer-Neumann, 1998):
INFO
Phasen des Schriftspracherwerbs
- 1. Vorläuferfähigkeiten / präliteral-symbolische Phase
- 2. Logographemische Strategie
- 3. Alphabetische Strategie
- 4. Orthographische Strategie
- 5. Integrativ-automatisierte Strategie
Im Folgenden werden die einzelnen Strategien bzw. Phasen dargestellt.
1. Vorläuferfähigkeiten / präliteral-symbolische Phase: orerfahrungen mit der (Schrift-)Sprache haben grundsätzlich einen großen Einfluss auf die Entwicklung der späteren Lese- und Schreibfähigkeiten von Kindern (Jambor-Fahlen, 2018). Die meisten Forschungsansätze gehen mittlerweile von der zentralen Bedeutung der sogenannten Vorläuferfähigkeiten für einen erfolgreichen Schriftspracherwerb aus (s. Kap. 2.2 und 5).
2. Logographemische Strategie: Beim Übergang zur logographemischen Strategie wenden Kinder Assoziationen zwischen sichtbaren Schriftmerkmalen von ganzen Wörtern und einzelnen Wortbestandteilen (z. B. Silben) an. Diese werden wiederum mit der passenden Aussprache verknüpft.
Kinder prägen sich z. B. ein, wie das Wort aussieht, und können es dann mit der Bedeutung und der Aussprache beim lauten Lesen verknüpfen (s. Kap. 1, Abb. 2). Das gilt aber nicht für einzelne Buchstaben-Laut-Zuordnungen. Vielmehr merken sich Kinder, welche besonderen Merkmale ein ganzes Wort (gr. logos) hat.
Dabei fällt es ihnen nicht zwangsläufig auf, wenn Buchstaben vertauscht werden. Deswegen kann es zu Lesefehlern kommen: „Hand“ statt „Hund“ oder „Reis“ statt „Riese“. Der erste Buchstabe ist in dieser Phase besonders wichtig, denn an ihm orientieren sich die Kinder bei dieser Strategie stark.
3. Alphabetische Strategie: Kinder müssen in der nächsten Phase die Laut-Buchstaben-Zuordnung erlernen und erfolgreich phonologisch rekodieren – also die Laute zu einem Wort „zusammenziehen“ (s. Kap. 1). Das stellt für viele Kinder eine große Herausforderung dar, besonders zu Beginn des Schriftspracherwerbs. Zunächst müssen einzelne Buchstaben, dann Silben und schließlich Wörter im Schriftbild identifiziert und lautlich zugeordnet werden.
Hier ist für das Lesenlernen besonders das Vorgehen nach dem zuvor beschriebenen Zwei-Wege-Modell (s. Kap. 1, Abb. 2) relevant. Lehrkräfte haben hier die Aufgabe, die viel langsamere indirekte Strategie der Buchstaben-Laut-Zuordnung überwinden zu helfen, damit Kinder zügig den direkten Weg erlernen, auf dem sie Wörter schnell dekodieren und rekodieren können.
4. Orthographische Strategie: Das Kind lernt in dieser Phase, größere Einheiten von Schriftsprache zu verarbeiten, z. B. Silben oder häufig vorkommende Buchstabenfolgen wie (z. B. in , , ). So muss es nicht einzelne Buchstaben und Laute verbinden, sondern kann Wörter wesentlich schneller erlesen.
Die Automatisierung der Worterkennung wird weiter ausgebildet. Sie ist besonders wichtig für das flüssige Lesen, da Kinder mittels der Automatisierung Wörter als Ganzes oder einzelne Wortteile abgespeichert haben und nicht mehr Buchstabe-für-Buchstabe erlesen müssen.
5. Integrativ-automatisierte Strategie: In dieser Phase werden die erworbenen Fähigkeiten weiter gefestigt und verfeinert. Sie läuft meistens schon parallel zur orthographischen Phase ab. Kinder entwickeln ein tieferes Verständnis für die Struktur der Schriftsprache und lernen, Texte flüssig sowie sinnentnehmend zu lesen und zu schreiben. Dies ist keine neue Strategie, sondern verdeutlicht, dass Kinder oft einen längeren Zeitraum benötigen, um schriftsprachliche Fähigkeiten zu automatisieren. Der Vorgang wird nicht plötzlich abgeschlossen, sondern kann andauern (Mayer, 2022b).
2.2 Einfluss der Vorläuferfähigkeiten auf das Lesenlernen
Aktuellen Forschungsergebnissen zufolge haben neben den schriftsprachlichen Erwerbsstrategien insbesondere die Vorläuferfähigkeiten der präliteral-symbolischen Phase einen großen Einfluss auf das Lesenlernen (Füssenich, 2012; Jambor-Fahlen, 2018; Mayer, 2022b). Besonders zentral sind die Vorläuferfähigkeiten auch für den Schriftspracherwerb mehrsprachiger Kinder, da sie den Leseerwerb, der eventuell in zwei oder mehr Laut- und Schriftsprachsystemen erfolgt, unterstützen können (Grießhaber, 2018).
Innerhalb der verschiedenen Vorläuferfähigkeiten liegt häufig ein besonderer Fokus auf einer gut ausgeprägten phonologischen Bewusstheit. Um ein geschriebenes Wort lesen, d. h., aussprechen zu können, müssen einzelne Buchstaben erkannt und Lauten (Phonemen) zugeordnet werden. Das Kind muss sich also die einzelnen Laute merken und sie dann zusammenführen.
Die Vorläuferfähigkeiten sind ein wichtiger Einflussfaktor im Anfangsunterricht, da sie nicht nur erlernt werden können, sondern auch mit sensorischen und kognitiven Entwicklungsprozessen verknüpft sind, welche die Heranwachsenden durchlaufen. Neueste Studien zeigen, dass viele Kinder grundlegende Vorläuferfähigkeiten zu Schulbeginn noch nicht umfänglich erworben haben. Um Kindern das Lesen- und Schreibenlernen zu erleichtern, müssen diese Vorläuferfähigkeiten auch im Anfangsunterricht gefördert werden (Ennemoser et al., 2012; Krstic et al., 2018).
Einige Vorläuferfähigkeiten sollen gemäß Lehrplan Deutsch für die Primarstufe in Nordrhein-Westfalen (Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2021) in der Schule gefördert werden – nicht nur, aber auch für das Lesen (s. Abb. 7). Sie werden nachfolgend beschrieben.
1. Die phonologische Informationsverarbeitung insgesamt ist die Grundlage für das verbundene (synthetisierende) Lesen.
1a. Die phonologische Bewusstheit ermöglicht es zunächst, den lautlichen Aufbau gesprochener Sprache mental zu analysieren (Schnitzler et al., 2008). Dadurch können Kinder klare phonologische Unterschiede zwischen ähnlich klingenden Lauten erkennen und Bedeutungsunterschiede identifizieren (z. B. /b/ versus /p/).
Besonders die phonologische Bewusstheit als Teil der phonologischen Informationsverarbeitung ist für Kinder mit Schwierigkeiten im Leseerwerb ein wichtiger Ansatzpunkt für die intensivierte Unterstützung (s. Kap. 5).
1b. Zusätzlich hat das phonologische Arbeitsgedächtnis die Aufgabe, lautsprachliche, d.h., phonologische Informationen zu speichern und parallel weiterzuverarbeiten (Mayer, 2022b).
1c. Die Benennungsgeschwindigkeit, in internationalen Studien auch als „RAN“ (Rapid Automatized Naming) bezeichnet, ist ebenfalls wichtig für den Leseerwerb. Sie gibt an, wie schnell eine Person eine Folge von Symbolen (z. B. Buchstaben, Zahlen, Farben) visuell verarbeiten und dann benennen kann (Mayer, 2022b). Sie ist eine zentrale Vorläuferfähigkeit für die Automatisierung der Worterkennung.
BEISPIEL
Die phonologische Bewusstheit ermöglicht es, einen Unterschied zwischen folgenden Wörtern (Minimalpaare) wahrzunehmen:
Kanne – Tanne
Rose – Hose2. Die Wortbewusstheit ist auf der nächstgrößeren Ebene verortet. Sie umfasst die Möglichkeit, nicht nur Laute, sondern ganze Wörter als einzelne Bestandteile der gesprochenen und geschriebenen Sprache zu erkennen.
Die Wortbewusstheit unterstützt das Erkennen und damit das Erlesen einzelner Wörter im Text.
BEISPIEL
Wortbewusstsein
Wortgrenzen werden auditiv und visuell erkannt: Das Kind erkennt, wo ein Wort beginnt und wo es aufhört.
3. Auf der Ebene ganzer Sätze ist die syntaktische Bewusstheit eine ebenso wichtige, aber eher unbekannte Vorläuferfähigkeit. Sie bezeichnet die Fähigkeit, beim Lesen syntaktische Elemente zu erkennen und beim Sprechen oder Schreiben syntaktische Mittel bewusst zu nutzen, z. B. das Bilden und die Umstellung von Sätzen. Zwar ist diese Fähigkeit besonders beim mündlichen Sprachgebrauch bzw. beim Texteschreiben wichtig, jedoch erleichtern die Kenntnisse über Aufbau und Struktur von Sätzen auch den Leselernprozess.
BEISPIEL
Syntaktische Bewusstheit
Übergeordnete Satzstellungsregeln erfassen und Fehler korrigieren können:
Das Kind zur Schule laufen.
(Verbendstellung)
vs.
Das Kind läuft zur Schule.
(Verbzweitstellung)4. Darüber hinaus ist abschließend die pragmatische Bewusstheit notwendig, um den eigenen Sprachgebrauch zu gestalten, vor allem in der Kommunikation mit anderen. So muss beispielsweise auf die Verständlichkeit einer Mitteilung geachtet werden. Auswirkungen auf den Leselernprozess hat diese Vorläuferfähigkeit insofern, als sie z. B. hilft, dialogische Texte mit Sprecherwechsel oder verteilten Rollen zu verstehen und prosodisch zu gestalten.
BEISPIEL
Pragmatische Bewusstheit
- die Logik eines gelesenen Textes leichter dekodieren
- die pragmatische Wirkung von Texten, z. B. Aufforderung, Schuldzuweisung, Aufmunterung erfassen können
- Gelesenes auf seine Verständlichkeit hin untersuchen, z. B.: Ist die Adressierung einer Aussage sinnvoll?
Die pragmatische Bewusstheit kann auch vor dem Hintergrund eines integrativen Deutschunterrichts thematisiert werden, bei dem die verschiedenen Kompetenzerwartungen aus dem Lehrplan parallel ineinandergreifend vermittelt und erlernt werden.
KURZ & KNAPP
Erwerbsfaktoren und Lesenlernen
- Der Schriftspracherwerb läuft in verschiedenen Phasen ab, die sich auf den Leseerwerb auswirken.
- Die Vorläuferfähigkeiten stellen eine wichtige Voraussetzung für erfolgreiches Lesenlernen dar.
- Es gibt verschiedene Vorläuferfähigkeiten, die im Unterricht gefördert werden sollten, um den Leseerwerb zu unterstützen.
2 Eine ausführlichere Darstellung der verschiedenen am Schriftspracherwerb beteiligten Phasen findet sich in der Handreichung Rechtschreiben (Hinweise und Materialien für einen systematischen Rechtschreibunterricht in der Primarstufe in NRW - Handreichung)
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