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5. Alphabetisierung als Bestandteil der Deutschförderung
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Die vielfältigen Lernbiographien zugewanderter Kinder und Jugendlicher kommen häufig insbesondere in ihren diversen Vorerfahrungen mit Schrift und institutionalisiertem Lernen zum Ausdruck.
In diesem Zusammenhang eröffnet der Runderlass des Ministeriums für Schule und Bildung „Integration und Deutschförderung neu zugewanderter Schülerinnen und Schüler“ die folgende Möglichkeit:
- „Schülerinnen und Schüler, die über keine grundlegenden Kenntnisse im Lesen und Schreiben verfügen oder nicht im lateinischen Schriftsystem alphabetisiert sind oder keine oder nur eine geringe schulische Vorbildung mitbringen, können zunächst bis zu einem Jahr eine Lerngruppe zur Erstalphabetisierung besuchen.“
Mit Blick auf die diversen Lernausgangslagen kann idealtypisch zwischen diesen Situationen4 unterschieden werden:
Situation 1 Situation 2 Situation 3 Situation 4 Schriftunerfahrene Kinder u. Jugendliche Kenntnis anderer Schriftarten Erste Begegnungen mit dem lateinischen Schriftsystem Zweitschriftlernende - Noch keine Begegnung mit institutionalisiertem Lernen und/oder einem Schriftsystem
- Keine oder wenig Vorerfahrungen mit Lerntechniken und Lernstrategien
- Teilbeschulung im Herkunftsland
- Kenntnis kyrillischer, arabischer o. a Schriftsysteme
- aufgrund von Migrationserfahrungen aber keine soliden Fähigkeiten in der Erstschriftsprache
- Erfahrungen mit einer zweiten (Schrift-)Sprache, zumeist dem Englischen
- erste, aber nicht ausreichende, Erfahrungen mit dem lateinischen Schriftsystem
- solide schulische Vorbildung
- Kenntnis des lateinischen (und weiterer) Schriftsystems(e)
5.1 Die Bedeutung der mitgebrachten Sprachen der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alphabetisierungsprozess
Im internationalen Kontext und im Rahmen eines kompetenzorientierten Lernverständnisses gewann in den vergangenen Jahren der Begriff der Literalität als übergreifendes Konzept von Alphabetisierung zunehmend an Bedeutung.
Literalität beschreibt die Fähigkeit zur Teilhabe an einer schriftförmig organisierten Kultur sowie die Fähigkeit zum sprachlichen Handeln in schriftlicher Form. Die Begegnung mit Literalität kann mit non-verbalen und mündlichen Symbolen und Praktiken beginnen. Eine aktive Teilnahme und Teilhabe der Menschen an schriftsprachlichen Prozessen innerhalb der literalen Gesellschaft, in der sie leben, setzt aber Alphabetisierung voraus. Der Fokus liegt somit auf der Verwendung von gedruckten, geschriebenen und digitalen Informationen, um in der Gesellschaft zurechtzukommen, eigene Ziele zu erreichen und eigenes Wissen sowie individuelle Möglichkeiten zu entwickeln. Das erforderliche Niveau der Literalität kann nicht abstrakt definiert werden, sondern muss die Anforderungen, die die Gesellschaft an die Lese- und Schreibfähigkeit stellt, mitberücksichtigen.5
Durch dieses übergreifende Konzept der Literalität wird die Relevanz bereits vorhandener herkunftssprachlicher Kenntnisse für einen Alphabetisierungsprozess in der deutschen Sprache besonders deutlich:
Lernende, die bereits über literale Kompetenzen in ihrer Herkunftssprache verfügen, werden häufig als „Zweitschriftlernende“ bezeichnet. Sie erlernen somit das deutsche Schriftsystem auf der Grundlage eines bereits bekannten Schriftsystems in der Herkunftssprache. Diese Vorkenntnisse sind wertvoll und können den Lernprozess deutlich erleichtern:
- „Der Begriff Zweitschrifterwerb … bezeichnet den Prozess, bei dem Lernende, die bereits die Alphabetschrift einer anderen Sprache beherrschen, das deutsche Schriftsystem erlernen. Zweitschriftlernende eignen sich die deutsche Schrift in der Regel schnell an, weil sie mit Schriftlichkeit an sich vertraut sind und aufgrund lang- oder zumindest mehrjähriger Schulerfahrung über einschlägige Lerntechniken verfügen. Schriftunerfahrene Lernende hingegen sind meist lernungewohnt und ungeübt im Umgang mit Lehr- und Lernmedien, wodurch sich der Erwerbsprozess erheblich verlängert.“ 6
Weitere Ausführungen hierzu können unter dem folgenden Link nachgelesen werden:
https://url.nrw/LaSI-Foerderung-UnterrichtsgestaltungEine Übersicht über vorhandenes Vorwissen
In der folgenden Tabelle werden idealtypisch das Vorwissen bzw. die grundlegenden Kenntnisse im Lesen und Schreiben der Zweitschriftlernenden in ihrer(n) Herkunftssprache(n) dargestellt
Kenntnisse über die/das: 7 Funktion von Schrift Graphem-Phonem Korrelation lateinische Alphabet Strategien wie Lese-/Schreibrichtungen obligat. Verschriftlichung von Vokalen literalisiert in: Beispiele: lateinischer Schrift ✔ –
(für einzelne Korrelationen)✔ ✔ ✔ Polnisch, Türkisch, Englisch kyrillischer Schrift ✔ – – ✔ ✔ Russisch, Ukrainisch, Bulgarisch Konsonantenschriften ✔ – – – – Arabisch anderen Buchstabenschriften ✔ – – – – Thai Zeichen- oder Wortschriften ✔ – – – – Chinesisch ✔ = in der Regel bereits vorhanden
– = in der Regel im Zuge des Deutsch als Zweitsprache-Erwerbs noch zu erlernen in der Regel im Zuge des Deutsch als Zweitsprache-Erwerbs noch zu erlernen
5.2 Informationen zum Alphabetisierungsprozess und Materialhinweise
Für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die schriftunerfahren und wenig oder nicht literalisiert mit einem Alphabetisierungsprozess beginnen, steht zu Beginn das Erlernen der Graphem-Phonem-Korrelationen der deutschen Sprache im Mittelpunkt.
Um insbesondere für schriftunerfahrene Lernende eine möglichst förderliche Lernsituation zu gestalten, sollte der Unterricht von den folgenden Merkmalen gekennzeichnet sein:
- eine sprachenfreundliche Atmosphäre
- knappe Texte in Alltagssprache
- dialogisches Sprechen
- gezielte Grammatikarbeit
- migrationssensible/mehrperspektivische Texte
- formatives Feedback, durch das die Lernenden während des Lernprozesses eine Rückmeldung zum erreichten Lernstand erhalten und so der weitere Lernweg geplant wird (z. B. „Du hast es schon gut geschafft, dass … Achte beim nächsten Text darauf, dass …“; Arbeiten mit Portfolioaufgaben oder Möglichkeiten zur Selbsteinschätzung)
Die Inhalte der Lernprozesse mit dem Ziel der Alphabetisierung sind entsprechend dem Sprachniveau A1 des GeR auf die sukzessive Entwicklung der folgenden Kompetenzen ausgerichtet:
Teilbereiche Kompetenzen auf dem Sprachniveau A1 8 Hören und Verstehen - Die Schülerinnen und Schüler verstehen einzelne Wörter und ganz einfach strukturierte Sätze, die sich auf sie selbst, ihre Familie und konkrete Dinge ihres alltäglichen Umfelds beziehen, wenn sie langsam und deutlich gesprochen werden.
Sprechen - Die Schülerinnen und Schüler nehmen mit überwiegend auswendig gelernten kurzen Wendungen und einfachen Sätzen an Gesprächen über vertraute Personen, vertraute Themen und konkrete Situationen ihres unmittelbaren Umfelds teil. Die Äußerungen werden hierbei von Gestik und Mimik begleitet sowie in angemessenem Tempo wiederholt.
- Die Schülerinnen und Schüler äußern sich mit einfachen und eingeübten Wendungen und Sätzen über Menschen, Tiere, Dinge und Orte ihres unmittelbaren Umfelds. Sätze und Wendungen sind vorwiegend ohne weitere Verknüpfungen aneinandergereiht.
Schreiben - Die Schülerinnen und Schüler schreiben einfache Sachverhalte und Mitteilungen in einfachen und kurzen Sätzen auf, wenn sie inhaltliche und sprachliche Vorgaben haben.
Lesen - Die Schülerinnen und Schüler entnehmen kurzen einfachen Texten Informationen, wenn diese inhaltlich und sprachlich vorbereitet sind und aus den Bereichen vertrauter Unterrichts- bzw. Alltagssituationen stammen.
Sprachmittlung - Die Schülerinnen und Schüler formulieren kurze Äußerungen aus alltäglichen Situationen, die in der deutschen Standardsprache formuliert sind, in ihrer Herkunftssprache so, dass die Kernaussage generell richtig verstanden wird. Dies gilt in Ansätzen auch für schriftliche Äußerungen.
- Die Schülerinnen und Schüler verfügen über einen Grundwortschatz, der sie in die Lage versetzt, elementaren Kommunikationsbedürfnissen gerecht zu werden und sich in Alltagssituationen verständigen zu können.
Eine Gesamtübersicht der Kompetenzen bis zum Sprachniveau B1 befindet sich in der Anlage.
Unter der Adresse https://url.nrw/LaSI-Alphabetisierung befindet sich eine Darstellung idealtypischer Phasen eines Alphabetisierungsprozesses sowie eine Übersicht über hilfreiche Materialien.
4 Tabelle in Anlehnung an: Jambor-Fahlen, Simone/Schramm, Joanna/Teusner-Król, Heidrun (2014), S. 8
5 vgl. Hussain, Sabina (2011): Literalität und Alphabetisierung, Nationale und internationale Forschungs- und Praxisansätze – online abrufbar unter: https://www.die-bonn.de/doks/2011-alphabetisierung-01.pdf
6 ebd.
7 Tabelle in Anlehnung an: Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Schleswig-Holstein (2018), Seite 28
8 Vgl. Niedersächsisches Kultusministerium (2016), S. 10, 14, 17, 22, 25
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