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Warum Computerspiele im Unterricht?
Computerspiele sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Was in den 1980er- Jahren als Randphänomen für Nerds und Spezialisten begann, hat sich spätestens in den 2000er-Jahren zu einem Massenphänomen entwickelt. Heute spielen Alte und Junge, Männer und Frauen. 67 % der Schülerinnen und Schüler zwischen 12 und 19 Jahren geben im Rahmen der JIM-Studie 2020 an, täglich oder mehrmals pro Woche digitale Spiele zu spielen. Hierbei dient nicht nur der klassische Computer als Spielgerät, sondern auch tragbare wie stationäre Konsolen – man denke an die Playstation oder die Nintendo Switch –, Tablets und auch das Smartphone. Hiermit übersteigt das Spielen digitaler Spiele das Lesen von Büchern (35 %) fast um das Doppelte und wird nur von Fernsehen (72 %), Musik hören (93 %), Smartphone- und Internet-Nutzung (je 98 %) übertroffen. Trotz ihrer hohen lebensweltlichen Relevanz finden sich Computerspiele nur selten im Unterricht.
Am Zentrum für didaktische Computerspielforschung untersuchen wir in engem Austausch und gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen in der Schulpraxis die Potenziale von Computerspielen für den Einsatz im Regelunterricht. Einerseits setzen wir die Mittel der empirischen Bildungsforschung ein, um Lernpotenziale zu identifizieren, andererseits helfen uns konkrete Unterrichtserfahrungen dabei, diese in Lernsettings aus der Praxis für die Praxis zu überführen. Hierbei zeigen Spiele – auch solche, die nicht für den Unterricht entwickelt wurden – erhebliche Lernpotenziale, da sie immer didaktische Umgebungen darstellen. Denn bei Spielen ist es wie mit Witzen: Wenn man sie erklären muss, sind sie nicht gut. Daher vermitteln erfolgreiche Spiele den Spielenden beiläufig Fähigkeiten und Fertigkeiten, die sie zum Bestehen in der Spielwelt benötigen. Gebel, Gurt und Wagner haben bereits 2005 zahlreiche Kompetenzpotenziale populärer Computerspiele herausgearbeitet, die sich den Feldern der kognitiven, sozialen, persönlichkeitsbezogenen sowie allgemeinen Medienkompetenzen zuordnen lassen. Heute ist die Forschung weiter: Insbesondere die Interaktivität von digitalen Spielen ermöglicht entdeckendes Lernen und bindet eigenständiges Problemlösen sowie ein hohes Maß an kognitiver Aktivierung selbstverständlich in den Rezeptionsprozess ein. Spiele geben stetig Rückmeldungen zum aktuellen Fähigkeiten- und Leistungsstand, belohnen erbrachte Leistungen und ermöglichen Erfolgs- und Selbstwirksamkeitserfahrungen (s. Kasten). Sofern Spiele inhaltliche oder strukturelle Anknüpfungspunkte an curriculare Ziele bieten, lassen sie sich als lern- und verstehensförderliche Gegenstände im Regelunterricht nutzen.
Kurz und knapp: Lernpotenziale von Computerspielen
Computerspiele sind interaktiv.
Computerspiele stellen Spielerinnen und Spielern unterschiedlich weite Handlungsräume zur Verfügung, die sie einerseits zur Interaktion auffordern, sie aber andererseits auch voraussetzen. Ohne ihr aktives Mitwirken ist ein Fortkommen in der Spielwelt nicht möglich. Hierdurch erfahren sich Spielerinnen und Spieler innerhalb des Lerngegenstands als selbstbestimmt handelnde Subjekte, die das Spielgeschehen mitgestalten und deren Entscheidungen Konsequenzen haben. Damit eröffnen interaktive Spiele Wege in die metakognitive Verarbeitung der Spielerlebnisse. (vgl. u.a. Fritz 2006; Neitzel/Mohr 2006; Boelmann 2015).
Computerspiele sind immersiv.
Computerspiele sind in der Lage, Spielende durch die Kombination von Bild-, Ton- und interaktiven Handlungsraum in einen immersiven Lernzustand zu versetzen. Dieses aktive Versunkensein in eine Situation („flow“) regt zu tiefergehenden Lernprozessen an, als es oberflächliche, inhaltsbezogene Vermittlungssettings können (vgl. u.a. Bartle 2004; Pietschmann 2017; König 2019; König 2021).
Computerspiele sind problem-orientiert
Computerspiele stellen Spielende vor Probleme und begründen hiermit die Notwendigkeit ihres Handelns. Viele Spiele erlauben unterschiedliche Lösungswege und geben anschließend direktes Feedback, sodass Strategien weiterentwickelt oder revidiert werden können. In Lern-Szenarien ist dieses Charakteristikum von Vorteil, da Spielende kognitiv aktivierend eine direkte Rückmeldung in ihrem Lernprozess erfahren und Impulse für neue Verstehenswege erhalten (vgl. u.a. Kraam-Aulenbach 2002; Bopp 2005).
Computerspiele ermöglichen erfahrungsbasiertes Lernen.
Computerspiele werden im Gegensatz zu anderen Medienformen handelnd erschlossen und können nicht passiv rezipiert werden. Sie konfrontieren Spielerinnen und Spieler mit konstruierten, komplexen Welten, in denen aktiv gehandelt werden muss, um auftretende Probleme zu lösen (vgl. Boelmann 2020). Hierbei werden sie vor vielfältige Herausforderungen gestellt, die unterschiedliche Erfahrungsräume eröffnen (u.a. Problemerfahrungen, Irritationserfahrungen, Abwägungserfahrungen, Zwangserfahrungen, Folgeerfahrungen, emotionale Erfahrungen etc.). Die Reflexion über diese Erfahrungen führt zur Bildung mentaler Modelle, kognitiver Konzepte, Handlungs- und Erwartungsschemata (vgl. hierzu Kolb 1984; Buck 2019; Boelmann/Stechel 2020).
Leons Identität bietet solche Anknüpfungspunkte in die Curricula der achten Klasse im Fach Politik, Wirtschaft-Politik oder Gesellschaftslehre, da hier Themen wie Extremismus und identitäre Bewegungen behandelt werden. Es kann aber auch interdisziplinär eingesetzt werden – hierzu mehr im hinteren Teil dieses Konzepts. Das Spiel erfüllt zudem pragmatische Anforderungen an interaktive Lehr- und Lernmittel: Es ist einfach zu steuern und in kurzer Zeit durchzuspielen.
Leons Identität stellt die Spielenden vor ein klar formuliertes Problem und lässt sie verschiedene Lösungswege erproben. Leons Zimmer fungiert als überschaubare, aber motivierend eingerichtete Spielwelt und lädt zum freien Erkunden ein. Hierbei finden die Spielenden zahlreiche Details, deren aufmerksame Wahrnehmung für den Fortgang der Geschichte wichtig wird: Nur wer Leon kennengelernt hat und die Zeichen in seinem Zimmer richtig deutet, kann ihn davon überzeugen, nach Hause zurückzukehren. Hierbei ermöglicht Leons Identität durch seine verschiedenen Enden unterschiedliche Erfahrungen und schafft – da Schülerinnen und Schüler ihr eigenes Handeln als wirksam erfahren – vielfältige, authentische Kommunikationsanlässe.
All das macht Leons Identität zu einem lernförderlichen Lerngegenstand, der sich als Lernmedium lohnend und vielfältig in den Unterricht integrieren lässt. Mit dem vorliegenden Material soll Ihnen der Einstieg in die Arbeit mit dem Unterrichtsmedium Computerspiel erleichtert werden.
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